Der Frühling ging

John William Waterhouse (1849-1917)

Vergangen mit ihm ist das Neue,
das aus den alten Zweigen trieb.
Die Winde trugen in die Bläue,
den Hauch, der uns an Blumen lieb.

Noch sind die Rosen nicht verblüht;
uns streut die Blumenkönigin
ein schweres Duften ins Gemüt,
belebt, wie Balsam, Geist und Sinn.

Es flutet Mauern und Spaliere
der Hauch von Zartheit wie ein Beben,
Tristes wich einer Blütenzierde.
Im alten Rosenstock ist Leben!

Unter dem Blattwerk, klein und fest,
die neuen Knospen, wie ein Meer,
umstellt von stachligem Geäst
zum Schutze, wie ein Dornenheer.

Der Traum von Blüte geht dahin,
noch lockt ihr freundliches Gesicht.
Bald reift der Weizen – Herbstbeginn,
das Nahen des Winters ist in Sicht.

In einem kühlen Grunde

Eduard von Gebhardt (1838–1925)

In einem kühlen Grunde,
da geht ein Mühlenrad.
Mein Liebchen ist verschwunden,
das dort gewohnet hat.

Sie hat mir Treu‘ versprochen,
gab mir ein‘ Ring dabei,
sie hat die Treu‘ gebrochen,
das Ringlein sprang entzwei.

Ich möcht‘ als Spielmann reisen
wohl in die Welt hinaus
und singen meine Weisen
und geh‘ von Haus zu Haus.

Ich möcht‘ als Reiter fliegen
wohl in die blut’ge Schlacht,
um stille Feuer liegen
im Feld bei dunkler Nacht.

Hör‘ ich das Mühlrad gehen,
ich weiß nicht, was ich will;
ich möcht‘ am liebsten sterben,
da wär’s auf einmal still.

Melodie: nach Johann Friedrich Glück (1793-1840)
Text: Joseph von Eichendorff (1788-1857)


Isidor, der Ziegenbock

Teil 3

So waren sie bis zu den ersten Häusern gekommen.
Hier, wo die Gärten zurücktraten, die blühenden Aprikosen- und Pfirsichbäume dem Auge entschwanden, wo Gundermann und Bienensaug ihre Hauptbedingungen, das Versteck der Hecken, verloren, hörte auch das eigentliche Reich der mitsurrenden Erdhummel auf. Ihr Flug wurde unruhig, unstet, zwecklos. Der komisch wirkende Ton ihres Fagotts verlor an Glanz, Feuer und Gleichmäßigkeit und nahm eine unwirsche Klangfarbe an. Alles genierte sie. – Sie ärgerte sich über den steifgravitätischen Schritt Isidors, über das etwas verschrobene Beinwerk Schlaumes – kurzum, sie kam sich vor wie ein zweifelhafter Reporter, dem irgendeine Sache nicht in seinen Kram und seine Cliquenwirtschaft paßt, und dieserhalb – ob mit Recht oder Unrecht, ob es dem moralischen Empfinden und der sittlichen Würde schnurstracks entgegenlief oder nicht: hier mußte die Giftblase entleert und tapfer gestichelt werden. Und so geschah es. Die Kritikaster- und zweifelhafte Reporternatur der braunroten, haarigen und dickwanstigen Erdhummel kam zum glorreichen Durchbruch. Mit schadenfrohem Brummton umschwirrte sie einige Male den ruhig seines Weges einherwandelnden Bock – dann rückte sie näher und dann…

Was hatte ihr Isidor überhaupt zuleide getan?
Dieser Bockphilosoph, der sich ruhig in seine Liebesträume zurückzog, kümmerte sich nicht um die Hummel, aber die Hummel um ihn – und er wurde angerempelt. Sein lustiges Schwänzchen, das wieder in die heiterste Stimmung gekommen war, schlug ein flirrendes Rädchen nach dem anderen – und gerade dieser Ausbruch ungezwungener Lustigkeit schien besonders mißfällig auf die an und für sich schon verdrießliche Hummel zu wirken. Hier setzte sie ihr Gift- und Stechorgan an und stachelte weidlich.

Mit einem klagenden Gemecker fuhr Isidor auf. – In dem irrtümlichen Glauben befangen, Schlaume habe gestochen, wandte er seinen ganzen Zorn und Ingrimm auf diesen. Steifbeinig machte er kehrt, senkte das Gehörn und verdrehte die Augen, mit der bestimmten Absicht, den nichtsahnenden Humanistiker in Grund und Boden zu rennen. Als er aber dessen schuldlos-dummes Gesicht bemerkte, wußte er, von wannen das tückische Geschoß gekommen war. In ohnmächtiger Wut tat er einen verzweifelten Luftsprung, und dann, bevor Schlaume es noch verhindern konnte, setzte sich Isidor in einen krummbeinigen Stakelgalopp und raste auf den Großen Markt und die katholische Kirche zu.

Von dem brennenden Stigma gepeinigt, ein gehörntes Untier mit schwarzen Zotten und schleppendem Bocksbart, die Augen verdreht, so daß das Weiße unheimlich glänzend hervortrat, jagte er weiter, alles überrennend, was sich ihm in den Weg stellte. Das Hummelgift wirkte. Alle zärtlichen Liebesgedanken, alle Erinnerungen an gehabte Schäferstündchen schmolzen dahin wie Schnee an der Märzsonne. Isidor kannte sich vor Wut und Schmerzen nicht mehr. Sein Galopp artete in eine panikartige Flucht aus, und wie Schlaume auch zetern und flehen mochte, er konnte das Unglück nicht mehr aufhalten. Hinter ihm herrufend, mußte er mit leiblichen Augen zusehen, wie sein Brotverdiener an einem hohen christlichen Festtag die Straßen durchfegte, die lächerlichsten Sprünge vollführte und blindlings dem staunenden Menschenknäuel entgegenwetterte. Alle Bande der Disziplin waren auseinandergesprengt. Kein Zuspruch verfing mehr; das Verderben wollte sich austoben – und es tobte sich aus.

In putzigen Kurbetten erschien Isidor auf der Bildfläche des Marktes, und zwar in dem Augenblick, als dem Küster die zweite Mundsperre anflog.
Klaffenden Mundes sah dieser das Nahen des teuflischen Unholds.
Schreckliche Begebenheiten und Naturereignisse lähmen die Zunge, schreckliche Begebenheiten bringen in der höchsten Not die Sprache zurück. Perdje Puhl war wieder zungenfertig geworden.
»Die Wachsmarie in Gestalt eines Bockes!« schrie der Küster, »und in den Bock ist der Satan gefahren! – Der Satan …! – Der Satan …!«

Moses Herzlieb wollte versinken. Der Zusammenhang der Dinge war ihm sofort klar geworden. Um allen unliebsamen Konsequenzen aus dem Wege zu gehen, drückte er sich ruhig beiseite, um auf dem nächsten Wege sein Haus zu erreichen.

Immer näher galoppierte der Gepeinigte. Staub flog hinter ihm auf. Das Schwänzchen wirbelte, der Bart streifte den Boden, das Weiße im Auge war blutunterlaufen. Die Weiber kreischten, und die Männer drängten sich enger zusammen. Mit tragischer Wucht setzte die unvermeidliche Katastrophe ein.

Noch einmal rief Perdje über die Hegung: »Sehet das Strafgericht des ewigen Gottes! – Der Satan …! – Der Satan …!« aber er hielt seine Stellung inne. Er dachte gerade daran, den großen Bannfluch gegen den Bock auszustoßen – da unterlief Isidor den zum Exorzismus Geneigten.

»Der Satan …! – Der Satan …!« kreischten die Weiber.

Rittlings, seiner Selbstherrlichkeit und seiner ganzen küsterlichen Würde entkleidet, saß Perdje auf dem Untier, das nunmehr, noch mehr geängstigt, in den tollsten Sprungkünsten davonjagte. Allein dem unfreiwilligen Rittmeister war kein langer Sattelsitz beschieden, obgleich er sich in tausend Nöten am Bocksgehörn festhielt und krampfhaft mit den Beinen Isidors Bäuchlein umklammerte. Zuerst flogen Hut, Taschentuch und Schnupftabaksdose ins Weite – dann folgte er selber. Unsanft und in hohem Bogen schlug er auf das holperige Pflaster, während Isidor in erleichterten Sprüngen davonraste. Um die nächste Ecke verschwand er.

»Und es war doch der Satan!« knirschte Perdje zwischen den Zähnen.

Barmherzige Weiber hoben ihn auf. Andere gaben ihm die verlorenen Sachen zurück. Mit eingedrücktem Hut, schadhafte Stellen an Rock und Hosenzeug, die verbeulte Zinndose in der Hand haltend, reckte er sich noch einmal auf und sagte: »Betet für die räudige Seele – betet für Marie Verwahnen! – Der Satan ist in ihr! – Der Satan …! – Der Satan …!«

Dann hinkte er heimwärts.

Aber sein küsterliches Prestige war dahin; sein Stern sank mit dem heutigen Tage tiefer und tiefer. Die Menge ist wandelbar. Sie hörte auf Herrn Eusebius Dornkat, der mit tiefer Erkenntnis und Weltweisheit die ruhige Erklärung abgab: »Kinder, das war ja gar nicht der Satan. – Das war der schwarze Isidor, Schlaume Herzlieb sein kapitaler Springbock.«

»Gottdomie noch mal!« riefen die meisten.
Da gingen alle ruhig auseinander.

Herr Eusebius Dornkat hatte die richtige Beschwörungsformel gefunden.
Und Isidor?
Desgleichen.
Meckernd, wenn auch mit einer faustgroßen Schwellung an der Hinterseite behaftet, hatte er den Schutz des Herzliebschen Stalles gefunden.

Schlaume war glücklich. – – –

Isidor, der Ziegenbock

Teil 2

Hirtenknabe – Franz von Lenbach (1836-1904)

Das waren glückliche Ostern! – Seit Menschengedenken hatte sich die liebe Gotteswelt noch nie so frühzeitig geschmückt wie in diesem Jahre. Die Weidenkätzchen rüttelten und schüttelten sich; ein flimmeriger Goldstaub wehte davon über die Wiesen. Die Holztaube ruckste in den alten Weidenköpfen, und mohnblaue Feldflüchter zogen mit reißendem Fluge über die Triften. Von den benachbarten Bauernschaften und Einzelgehöften fuhren die Leute zum Hochamt. Mit jungen Maien waren die Wagen geschmückt, und festlich geputzte Menschen legten heute ihre schwerfällige Eigenart ab, um glücklich mit den Glücklichen und fröhlich mit den Lerchen zu sein, die, Osterlieder singend, zu ihren Häupten schwebten.
Feierliche Glockenschläge gingen über das duftige Grasmeer; vom Schieferhelme des Kirchturmes wehte die lange Fahne in den päpstlichen Farben. Schwefelgelbe Quasten baumelten vom Flaggenstock und berührten fast die Kronen der frisch geschlagenen Maienbäume, die vor dem Portal aufgepflanzt waren. Von hier aus lief eine Via triumphalis bis zum katholischen Pastorat, flankiert von silberlichten Birken und bestreut mit geschnittenem Kalmus, dessen Geruch angenehm die schmalen Straßen durchströmte. Es war fast wie am Fronleichnamstage – so feierlich, so duftig und so prozessionsmäßig.
[..]
Schlaume Herzlieb lag noch immer im Grase und zählte die Hüpfer, die über ihn wegschossen.
Der warme Sonnenschein drückte sich zwischen die jungen Halme und weckte alles zum Leben, was leben konnte und wollte. In den Wassergräben trieben Pfeilkraut und Froschlöffel ihre Spitzen an die Oberfläche. Langbeinige Spinnen huschten darüber hin. – Isidor weidete stelzbeinig durch den saftigen Rasen. Für seinen Herrn hatte er kein Auge mehr. Er war total mit ihm verfeindet, denn dessen beleidigendes Ansinnen, seine Gunst auch der Meyer Pinkusschen Ziege teilhaftig werden zu lassen, trug allzu sehr den Stempel des Geschäftlichen an sich, hatte mit Liebe nichts gemein und lief somit seiner bockigen Ehre schnurstracks zuwider. Die Weiße von Cornelis Janßen, die Schwarz-Braune von Herrn Eusebius Dornkat und vor allen Dingen die Rahmfarbige, die Zimperliche mit dem himmelblauen Bändchen der Damen Nettchen und Settchen Käschen: das waren denn doch andere Nummern, das waren Geschöpfe, mit denen zu buhlen nichts Anrüchiges anhaftete, nichts Unliebsames anklebte. Im Gegenteil, hier konnte die freie Liebe ihre schönsten Triumphe feiern, hier konnte sie aufjubeln und gleichartige Herzen im Taumel des Genusses vereinen. Aber die Lahme mit dem abgebissenen Ohr …? Hier sah das pure Geschäft wie ein Frettchen aus dem Bau. Infam! – Es ging ihm wider die ehrliche Bocksnatur, sein Gewissen sträubte sich dagegen; die von ihm selbst ausgeklügelte Theorie über den idealen Liebesgenuß und seine praktische Anwendung in besonderen Fällen wurde hierdurch über den Haufen geworfen, und dieses erwägend, stieß Isidor plötzlich ein zorniges Gemecker aus, zeigte sich halsstarrig und machte Miene, sich mit gesenktem Gehörn und mit schleppendem Bart auf seinen ahnungslosen Herrn zu stürzen.

Schlaume sprang auf. Schnellfüßig rettete er sich hinter einen Weidenstamm, riß eine Gerte herunter und versetzte dem zudringlichen Bock etliche wohlgezielte Hiebe, die diesen etwas zur Vernunft brachten. Der Angriff war abgeschlagen, das Gleichgewicht scheinbar hergestellt, aber innerlich wurmte und kochte das, und Rachegedanken im schwarzen Busen hegend, machte Isidor kehrt und rupfte mit der gleichgültigsten Miene von der Welt fettes Gras und saftige Kräuter. Zuweilen nur drang die verhaltene Wut durch. Er mobilisierte alsdann etliche Korinthen und Rosinen, quirlte mit dem Schwanz und dirigierte die runden Geschosse auf Schlaume.
Schließlich merkte dieser die böswillige Absicht.

»Nu grade,« sagte Schlaume. »Un Du kriegst doch dem Herrn Meyer Pinkus die seine; aber die Rahmweiße un die mit’s dumme Gesicht von Herrn Eusebius Dornkat werden gestrichen. – Wir gehen nach Hause.«

Mit schwanker Weidengerte trieb Schlaume den steifen Bock vor sich her. Ängstlich vermied er die belebten Pfade. In großem Bogen lenkte er um die kleine Stadt, bog in die vereinsamten Gartenstege ein, um, von den grünen Hecken geschützt, den Stall zu erreichen. Er wollte am christlichen Feiertage kein Ärgernis geben.

Die braunrote Erdhummel von vorhin mußte wohl an Isidor ein besonderes Wohlgefallen gefunden haben, denn sie stellte sich von neuem ein, brummte schwerfälligen Fluges mit und machte nur ab und zu kleine Streifzüge in die nahegelegenen Gärten. Aber immer wieder taumelte sie über die Hagedorn- und Buchenhecken zurück, umkreiste Isidor – und so: Schlaume schimpfend und mit der Gerte fuchtelnd, Isidor meckernd und die dicke Erdhummel das tiefgestimmte Fagott blasend, zogen die drei auf verschwiegenen Wegen in die sonntägliche Stadt ein.

In den erwachenden Gärten trugen die Amseln dürre Stecken und faserige Quecken zu Nest. Die Aprikosen- und Pfirsichbäume spendeten Weihrauch, das sanfte Rauschen in den Obstbäumen erinnerte an fernes Orgelklingen, und die gelben Narzissen entfalteten ihre Sterne und muteten an wie Kerzen, die den Frühlingsgarten verschönten. Tausendfältig zirpte und geigte es zwischen den Hecken, die Vögel sangen dazwischen – aber alles wurde übertönt durch die mächtigen Klänge der Orgel, die jetzt aus der Kirche mit allen Registern über die Gärten frohlockte. Deutlich klangen die Aeolsstimmen und rief die vox humana herüber.

Das Hochamt war zu Ende. –
Duftig stieg der Weihrauch zur Decke; am hohen Sterngewölbe verflog er.
Die schweren Kirchentüren wurden geöffnet.
[..]

Sprachlos sah er in die enge Gasse, die mit ihren schiefen und winkeligen Häusern auf den Marktplatz führte. Entgeistert stierte er auf den teuflischen Spuk, auf den schwarzen, zottigen Gegenstand, der von dort herbeikapriolte.
Inzwischen waren Schlaume Herzlieb, Isidor und die fettleibige Erdhummel schimpfend und Gerte fuchtelnd, meckernd und fagottierend durch die blühenden und duftigen Gartenstege gezogen.
Schlaume achtete nicht auf das Grünen und Treiben in der Natur, auf das Zwitschern und Nesterbauen in den Zweigen und auf den belebenden Erdgeruch, der aus der warmen Scholle hervordrang.

Er mochte es sich eingestehen oder nicht, das offenbare Zerwürfnis mit Isidor, die Mißhelligkeiten und pekuniären Schäden, die aus dieser Zwietracht mit tödlicher Sicherheit erwachsen mußten, waren ihm in die Glieder gefahren. Ein ehrenvoller Rückzug seinerseits war hierdurch nicht nur angezeigt, sondern geradezu notwendig geworden, ein Rückzug, den er zuvörderst durch Enthaltung des Schimpfens in die Wege zu leiten gedachte. Also – er enthielt sich in erster Linie des Schimpfens.
Hierauf pfiff er ein fröhliches Liedchen in Gottes schöne Welt hinein.
Isidor achtete nicht darauf.

Alsdann führte er ein lautes Selbstgespräch, in welchem er die Vorzüge der Rahmweißen mit dem blauen Halsbändchen in die beste Beleuchtung stellte.
Es schien keinen Eindruck zu machen.
Als dieses nicht fruchtete, schlug er einen jovialen Ton an.
»Nu, Isidor, wo geht’s Dir?«

Schlaume hatte etwas Wehmut in die joviale Färbung der Fragestellung gemischt.
Derselbe negative Erfolg.
Isidor dachte gar nicht daran, so kurzerhand seinen Frieden mit Schlaume zu machen. Die Kränkung wurzelte zu tief. Bockbeinig, gesenkten Hauptes und auf seine wichtige Stellung als Geldverdiener fußend, zog er Schritt für Schritt den heimischen Penaten entgegen.

»Nu, denn nich!« sagte Schlaume.

Fortsetzung folgt

Isidor, der Ziegenbock

Teil 1

Hier einen solchen Romanauszug zu präsentieren ist schwer, zumal er sehr lang ist, obwohl ich schon etliches gekürzt habe. Anstelle des fehlenden Textes steht dieses Zeichen [..]

Die Geschichte ist Bestandteil des Romans „Marie Verwahnen“ (genannt: die Wachsmarie) von Joseph von Lauff (1855-1933). Ein Autor, den ich liebgewonnen habe, ebenso war er Lieblingsautor und Oberstleutnant des letzten deutschen Kaisers, der Kritik an der katholischen Kirche in seinen Romanen nicht verbarg. Im Gegenteil, er machte sie zu einer Karikatur, worüber man sich am ‚schwarzen‘ Niederrhein die Mäuler zerriss.

Eine Geschichte um den jüdischen Mitbürger Moses Herzlieb und dessen Sprößling Schlaume:

Isidor, der schwarze Ziegenbock

…oder Satan persönlich galoppiert in die Gemeinde, die gerade eine katholische Messe zu Ostern am Niederrhein verlässt.

Schon beizeiten und in aller Sonntagsfrühe hatte Schlaume Herzlieb seinen stattlichen Ziegenbock auf die Weide getrieben, um ihm die Wohltat des frischen Grases zu verstatten. Der meckernde Gesell war das Eigentum Schlaumes. Er konnte nach eigenem Ermessen über ihn schalten und walten, mußte allerdings alle Lasten, die mit der Haltung des Tieres verknüpft waren, tragen, war dafür aber auch der unumschränkte, glückliche Nutznießer des prächtigen Herrn aus dem Ziegengeschlecht, der als vielbegehrter Sprung- und Deckbock ein Erkleckliches abwarf.

Alle Ziegen der Nachbarschaft wurden diesem Pascha zugeführt, waren ihm tributpflichtig und genossen seine Liebe gegen die Hinterlegung eines Kastemännchens, das nach geschehenem Sprunge in die Tasche Schlaumes hinabklingelte. So häufte sich im Laufe des Jahres Kastemännchen auf Kastemännchen. Allmonatlich wurde die Kasse einer Revision unterzogen, und stets wies das Fazit ein erfreuliches Resultat auf.

»’s stimmt!« sagte alsdann der kleine Schlaume und schloß die Kassette wieder ab, auf deren Deckel die inhaltsschweren Worte ›Bock- und Sprunggelder for Salomo Herzlieb‹ in flüssiger Kurrentschrift verzeichnet standen.


Trotz des christlichen Jontefs (jüdisch für Festtag) hatte Schlaume zur Weide getrieben, und während Isidor gravitätisch durch das frische Grün stelzte, den Bart schleifte und mit dem Schwänzchen kapriolte und fröhliche Rädchen schlug, lag der kleine Judenbengel rücklings am Wiesenrand, schlenkerte das rechte über das aufgestemmte linke Bein und blinzelte zum Himmel auf, der in strahlender Bläue die weite, duftige Grasfläche überspannte. Schlaume war glücklich. In dieser Glückseligkeit nickte er dem bereits etwas steifbeinigen, aber würdigen Pascha zu – und dieser verstand ihn.

»Isidor!« rief der kleine Schlaume.

Der Bock meckerte auf.

»Übermorgen kommt die Weiße von Herrn Cornelis Janßen zu uns: macht ein Kastemännchen.«

»Mäh!« sagte der Pascha.

»Nü – un zu kommenden Freitag die Schwarz-Braune mit’s dumme Gesicht von Herrn Eusebius Dornkat.«

Der Bock meckerte wieder.

»Macht zwei Kastemännchen,« ergänzte Schlaume in tiefer Betrachtung. »Un denn kommt die Rahmweiße, die Zimperliche mit’s himmelblaue Bändchen von die Damens Käschen. ’ne Kapitalziege …! – Wieder ein Kastemännchen.«

Im behaglichen Vorgefühl der kommenden Dinge schloß der Steifbeinige die Augen, gab etliche Rosinen von sich und ließ sie durch eine schnelle Bewegung des Schwanzes turbinenartig rotieren.

»Isidor, un denn kommt die Schwarze mit die Hängeohren von Perdje Puhl – un denn die Fromme vom Herrn katholischen Pfarrer – un denn die Blässe mit’s dicke Euter von der liebreichen Frau Ankerwirtin. – Drei Kastemännchen auf einmal…! – Nu, Isidor«– un wo gefällt Dir die Sache?«

Dreimaliges Meckern von seiten des Paschas.

»Un denn,« fuhr Schlaume fort, »Isidor, gehst Du kapores! – un denn kommen die fünf mit die Glöckchens vom Entenbusch, un denn zuletzt – aber, Isidor, nimm’s mir nich übel! – die Lahme mit’s abgebissene Ohr: dem Herrn Meyer Pinkus die seine. Macht sechs Kaste Männchen ßusammen.«

Allein Schlaume hatte dieses Mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Höchst indigniert, verächtlich und mit langem Gesicht drehte sich der Pascha auf seinen steifen Beinen herum und gewährte Schlaume den Anblick seiner hinteren Seite. Er würdigte den Rechenkünstler keines Blickes mehr. Stocksteif und mit eingezogenem Buckel sah er in die Gegend hinaus.

»Isidor, bist Du meschugge?! – Is sie doch auch ’ne Ziege, die Lahme mit’s abgebissene Ohr: dem Herrn Meyer Pinkus die seine.«

Es war umsonst. Jeder Zuspruch fiel auf unfruchtbaren Boden. Isidor ließ sich auf nichts mehr ein, graste weiter und schnappte gelegentlich nach einer braunroten Erdhummel, die nicht müde wurde, um seine Nase zu taumeln.

»Püh – denn nich!« sagte Schlaume. »Gefällt Dir die Sache nich – mir aber gefällt sie. – Macht ßusammen zwölf Kastemännchen, gleich ’nem Taler preußisch Courant. Isidor, ’s stimmt.«

Also meditierte Schlaume, kümmerte sich nicht weiter um den halsstarrigen Bock, legte sich wieder rücklings ins Gras und schlug die Beine übereinander.

So mochte er etliche Stunden gelegen haben, als mit feierlichen Schlägen die Glocken zum Hochamt riefen. –

Fortsetzung folgt…

Altersschranken

Irdische und himmlische Liebe – FRANZ VON LENBACH (1836 ‐ 1904)

Vorbei die Zeit des Gegenüberstehens,
verborgene Blicke des Vorübergehens,
ein Ahnenlassen, wie das Herz empfindet,
voll Scham erröten, völlig unbegründet,
verlegen dann die Hand zum Gruße reichen,
ungern von der geliebten Seite weichen.

Die Jugend ist vorbei, ist abgehandelt,
kein Trieb, der meine Sinne wandelt.
Mit alter Seele frei von Leidenschaft,
aus tiefstem Herzen manches Mal gedacht:
Befreiung heißt Verzicht und nicht Verbot,
ist die Gewissheit vor dem Abendrot.

Liebt man nicht nur das Bild im Spiegel,
sein selbst kreiertes Gütesiegel?!
Kann Unbekanntes Seligkeiten bringen,
das nicht gestaltet ist nach eignen Dingen?
Die rosarote Blindheit der Gedanken
eröffnet die im Alter auferlegten Schranken.

Doch gab ich meinen Kräften neuen Sinn,
damit ich hier auf Erden nah dem Himmel bin.

Schattige Tage

Foto: Gisela Seidel – Motorradausflug in der Rhön

Schon lang ist’s her,
so viele Jahre,

im Leben kurz ein Mehr
der guten Tage.

Ein Abenteuer,
hoffnungsvoll,
wie Stroh entflammt,

ein schnell gelöschter
kurzer Brand,

ließ meine Tage wieder
schattig sein
und mich allein.

Hoffnungsvoll

Die Republik – Gerome Jean Leon (1824 – 1904)

Die Hoffnung setzt Vertrauen in das Leben.
Obwohl die Dunkelheit so manchen Tag verhüllt,
wird sie uns Lebensmut und Selbstvertrauen geben,
auch wenn oft langes Warten unsre Stunden füllt.

Und ist uns bang ums Herz und trüb die Sicht,
für Pläne, die wir tief im Herzen schmieden,
so sendet uns ein Leuchten neues Hoffnungslicht;
gelingt ein Plan, bringt es uns den erträumten Frieden.

Die Hoffnung ist die Flamme unsrer Lebenslichter,
ein Funke, der das Feuer in der Dunkelheit entfacht,
erfüllte Träume bringen strahlende Gesichter,
und es durchflutet heller Schein die finstre Nacht.

Oft will uns nicht gleich jeder Schritt gelingen,
dann straucheln wir und fallen hart zurück,
die ferne Zeit wird dann zum Guten bringen,
was einst zerstörte unser Missgeschick.

Wiedergeburt

Bild: Karin M.

Hin zu den klaren Quellen,
mit Weisheit gesegnet.

Alte Seelen,
nichts wissend,
nur ahnend,
unter tausend Schichten verborgen,

zur geistigen Erhöhung
dem Leben verpflichtet.

Gesichter der Erde im Spiegel,
Geist des Himmels im Herzen.

Voran, weiter, höher!
Es gibt kein Zurück.

Ein tiefer Brunnen

Siegfried August Gerasch (1822 – 1893)

Ein tiefer Brunnen sein,
in dem die klaren Wasser nie versiegen,
wo durstig man das Leben trinkt und lacht,

in Sand gebaut,
wo Füße vieler in den Spuren liegen,
wo feuchte Stirnen kühlten in der Nacht.

Nach allen Seiten offen…
Krüge füllen,
mit tiefem Wasser – Lebenselixier allein;
gar manchen Durst nach Klarheit stillen.

Wer wollte nicht wie dieser Brunnen sein!