Abgrundtief

Auftakt meines Buches „Jenseits des Schleiers“

Caspar David Friedrich (1774-1840)

Und wieder hat der Abgrund sich geöffnet.
Ich stehe noch am Rand und schau hinab.
Dort unten lockt der Tod mit schwarzen Schatten
und seine Rufe dringen lauter in mein Hirn.
Sie mahnen mich, zu springen, hinzugleiten in sein Reich,
den freien Fall erdulden, vor dem wehen Aufprall,
mild, in seine Hände.

Die Erde klafft tief unter mir und öffnet weit die Tore zur Unterwelt,
die gierig danach ist, mich aufzunehmen in den Todesreigen.

Ich hab gesucht, nach Liebe und Vertrauen.
Doch diese Welt ist leer von alledem und so verschlossen,
wie das Tor zur Hölle.

Allein, was ich gefunden, hier und jetzt,
sind Zeichen für das unbeschmutzte Reine,
das in den völlig heimatlosen Sehnsuchtsherzen
sich selber sucht, und manchmal, unter Schutt und
Schmutz bedeckten Weltenhügeln, sich wieder findet,
unter Leid und Schmerz.

Blick nach Ostpreußen

Flucht aus Ostpreußen 1914 – Gemälde von Claus Bergen (1885-1964)

Der Süden hat mich nie gelockt,
wo Leichtes schwebt in sonnigen Gefilden,
blieb Sinn und Denken mir verstockt;
Verbundenheit ließ sich nicht bilden.

Der Osten trägt Melancholie,
umhüllt die längst verklärte Fährte.
Die ferne Zeit zeigt irgendwie
Natur, die so ersehnenswerte.

Die schwere Schlichtheit dieses Lebens,
so Gott gegeben, urvertraut,
ein fein Gespinst wie Leingewebe,
das kratzt und schmerzt auf bloßer Haut.

Blutig die Knie, die Hände rau,
erschuf man sich sein täglich Brot.
Brachte den Bauersleuten auch
die schwere Arbeit frühen Tod.

Entbehrung hieß die Einfachheit,
gesegnet war des Tages Lauf.
Die Sehnsucht kannte keine Zeit,
man sah getrost zum Himmel auf.

Morbides trieb die Politik,
nahm Mensch und Sprache mit sich fort.
So flüchtig war der Traum von Glück,
vergessen altes Land und Ort.

Was blieb ist die Melancholie,
die Traurigkeit der Ahnen.
Selbst wenn ich lache, spür ich es,
ihr gegenwärt’ges Mahnen.

1. Jahresgedenken

Patrick Seidel
18.11.1981 – 29.10.2019


„Hast du Angst vor dem Tod?“, fragte der kleine Prinz die Rose.
Darauf antwortete sie: „Aber nein. Ich habe doch gelebt, ich habe geblüht und meine Kräfte eingesetzt soviel ich konnte. Und Liebe, tausendfach verschenkt, kehrt wieder zurück zu dem, der sie gegeben. So will ich warten auf das neue Leben und ohne Angst und Verzagen verblühen.“

Antoine de Saint-Exupéry

Wir vermissen Dich!

Ännchen von Tharau

Annchen von Tharau ist, die mir gefällt;
Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.

Annchen von Tharau hat wieder ihr Herz
Auf mich gerichtet in Lieb’ und in Schmerz.

Annchen von Tharau, mein Reichthum, mein Gut,
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!

Käm’ alles Wetter gleich auf uns zu schlahn,
Wir sind gesinnet bei einander zu stahn.

Krankheit, Verfolgung, Betrübniß und Pein
Soll unsrer Liebe Verknotigung seyn.

Statuette Ännchen von Tharau – unbekannter Künstler

Recht als ein Palmenbaum über sich steigt,
Je mehr ihn Hagel und Regen anficht;

So wird die Lieb’ in uns mächtig und groß
Durch Kreuz, durch Leiden, durch allerlei Noth.

Würdest du gleich einmal von mir getrennt,
Lebtest, da wo man die Sonne kaum kennt;

Ich will dir folgen durch Wälder, durch Meer,
Durch Eis, durch Eisen, durch feindliches Heer.

Annchen von Tharau, mein Licht, meine Sonn,
Mein Leben schließ’ ich um deines herum.

Was ich gebiete, wird von dir gethan,
Was ich verbiete, das läst du mir stahn.

Was hat die Liebe doch für ein Bestand,
Wo nicht Ein Herz ist, Ein Mund, Eine Hand?

Wo man sich peiniget, zanket und schlägt,
Und gleich den Hunden und Kazen beträgt?

Annchen von Tharau, das woll’n wir nicht thun;
Du bist mein Täubchen, mein Schäfchen, mein Huhn.

Was ich begehre, ist lieb dir und gut;
Ich laß den Rock dir, du läßt mir den Hut!

Dies ist uns Annchen die süsseste Ruh,
Ein Leib und Seele wird aus Ich und Du.

Dies macht das Leben zum himmlischen Reich,
Durch Zanken wird es der Hölle gleich.

Gebet

Kurische Nehrung – Hans Kallmeyer 1882-1961

Herr, gib uns helle Augen
Die Schönheit der Welt zu sehn!
Herr, gib uns feine Ohren,
Dein Rufen zu verstehn.
Und weiche, linde Hände
Für unserer Brüder Leid
Und klingende Glockenworte
Für unsre wirre Zeit!
Herr, gib uns rasche Füße
Nach unserer Arbeitsstatt –
Und eine stille Seele,
Die deinen Frieden hat!

Frieda Jung (1865-1929)
Ostpreußische Heimatdichterin
geboren im Landkreis Gumbinnen