Isidor, der Ziegenbock

Teil 3

So waren sie bis zu den ersten Häusern gekommen.
Hier, wo die Gärten zurücktraten, die blühenden Aprikosen- und Pfirsichbäume dem Auge entschwanden, wo Gundermann und Bienensaug ihre Hauptbedingungen, das Versteck der Hecken, verloren, hörte auch das eigentliche Reich der mitsurrenden Erdhummel auf. Ihr Flug wurde unruhig, unstet, zwecklos. Der komisch wirkende Ton ihres Fagotts verlor an Glanz, Feuer und Gleichmäßigkeit und nahm eine unwirsche Klangfarbe an. Alles genierte sie. – Sie ärgerte sich über den steifgravitätischen Schritt Isidors, über das etwas verschrobene Beinwerk Schlaumes – kurzum, sie kam sich vor wie ein zweifelhafter Reporter, dem irgendeine Sache nicht in seinen Kram und seine Cliquenwirtschaft paßt, und dieserhalb – ob mit Recht oder Unrecht, ob es dem moralischen Empfinden und der sittlichen Würde schnurstracks entgegenlief oder nicht: hier mußte die Giftblase entleert und tapfer gestichelt werden. Und so geschah es. Die Kritikaster- und zweifelhafte Reporternatur der braunroten, haarigen und dickwanstigen Erdhummel kam zum glorreichen Durchbruch. Mit schadenfrohem Brummton umschwirrte sie einige Male den ruhig seines Weges einherwandelnden Bock – dann rückte sie näher und dann…

Was hatte ihr Isidor überhaupt zuleide getan?
Dieser Bockphilosoph, der sich ruhig in seine Liebesträume zurückzog, kümmerte sich nicht um die Hummel, aber die Hummel um ihn – und er wurde angerempelt. Sein lustiges Schwänzchen, das wieder in die heiterste Stimmung gekommen war, schlug ein flirrendes Rädchen nach dem anderen – und gerade dieser Ausbruch ungezwungener Lustigkeit schien besonders mißfällig auf die an und für sich schon verdrießliche Hummel zu wirken. Hier setzte sie ihr Gift- und Stechorgan an und stachelte weidlich.

Mit einem klagenden Gemecker fuhr Isidor auf. – In dem irrtümlichen Glauben befangen, Schlaume habe gestochen, wandte er seinen ganzen Zorn und Ingrimm auf diesen. Steifbeinig machte er kehrt, senkte das Gehörn und verdrehte die Augen, mit der bestimmten Absicht, den nichtsahnenden Humanistiker in Grund und Boden zu rennen. Als er aber dessen schuldlos-dummes Gesicht bemerkte, wußte er, von wannen das tückische Geschoß gekommen war. In ohnmächtiger Wut tat er einen verzweifelten Luftsprung, und dann, bevor Schlaume es noch verhindern konnte, setzte sich Isidor in einen krummbeinigen Stakelgalopp und raste auf den Großen Markt und die katholische Kirche zu.

Von dem brennenden Stigma gepeinigt, ein gehörntes Untier mit schwarzen Zotten und schleppendem Bocksbart, die Augen verdreht, so daß das Weiße unheimlich glänzend hervortrat, jagte er weiter, alles überrennend, was sich ihm in den Weg stellte. Das Hummelgift wirkte. Alle zärtlichen Liebesgedanken, alle Erinnerungen an gehabte Schäferstündchen schmolzen dahin wie Schnee an der Märzsonne. Isidor kannte sich vor Wut und Schmerzen nicht mehr. Sein Galopp artete in eine panikartige Flucht aus, und wie Schlaume auch zetern und flehen mochte, er konnte das Unglück nicht mehr aufhalten. Hinter ihm herrufend, mußte er mit leiblichen Augen zusehen, wie sein Brotverdiener an einem hohen christlichen Festtag die Straßen durchfegte, die lächerlichsten Sprünge vollführte und blindlings dem staunenden Menschenknäuel entgegenwetterte. Alle Bande der Disziplin waren auseinandergesprengt. Kein Zuspruch verfing mehr; das Verderben wollte sich austoben – und es tobte sich aus.

In putzigen Kurbetten erschien Isidor auf der Bildfläche des Marktes, und zwar in dem Augenblick, als dem Küster die zweite Mundsperre anflog.
Klaffenden Mundes sah dieser das Nahen des teuflischen Unholds.
Schreckliche Begebenheiten und Naturereignisse lähmen die Zunge, schreckliche Begebenheiten bringen in der höchsten Not die Sprache zurück. Perdje Puhl war wieder zungenfertig geworden.
»Die Wachsmarie in Gestalt eines Bockes!« schrie der Küster, »und in den Bock ist der Satan gefahren! – Der Satan …! – Der Satan …!«

Moses Herzlieb wollte versinken. Der Zusammenhang der Dinge war ihm sofort klar geworden. Um allen unliebsamen Konsequenzen aus dem Wege zu gehen, drückte er sich ruhig beiseite, um auf dem nächsten Wege sein Haus zu erreichen.

Immer näher galoppierte der Gepeinigte. Staub flog hinter ihm auf. Das Schwänzchen wirbelte, der Bart streifte den Boden, das Weiße im Auge war blutunterlaufen. Die Weiber kreischten, und die Männer drängten sich enger zusammen. Mit tragischer Wucht setzte die unvermeidliche Katastrophe ein.

Noch einmal rief Perdje über die Hegung: »Sehet das Strafgericht des ewigen Gottes! – Der Satan …! – Der Satan …!« aber er hielt seine Stellung inne. Er dachte gerade daran, den großen Bannfluch gegen den Bock auszustoßen – da unterlief Isidor den zum Exorzismus Geneigten.

»Der Satan …! – Der Satan …!« kreischten die Weiber.

Rittlings, seiner Selbstherrlichkeit und seiner ganzen küsterlichen Würde entkleidet, saß Perdje auf dem Untier, das nunmehr, noch mehr geängstigt, in den tollsten Sprungkünsten davonjagte. Allein dem unfreiwilligen Rittmeister war kein langer Sattelsitz beschieden, obgleich er sich in tausend Nöten am Bocksgehörn festhielt und krampfhaft mit den Beinen Isidors Bäuchlein umklammerte. Zuerst flogen Hut, Taschentuch und Schnupftabaksdose ins Weite – dann folgte er selber. Unsanft und in hohem Bogen schlug er auf das holperige Pflaster, während Isidor in erleichterten Sprüngen davonraste. Um die nächste Ecke verschwand er.

»Und es war doch der Satan!« knirschte Perdje zwischen den Zähnen.

Barmherzige Weiber hoben ihn auf. Andere gaben ihm die verlorenen Sachen zurück. Mit eingedrücktem Hut, schadhafte Stellen an Rock und Hosenzeug, die verbeulte Zinndose in der Hand haltend, reckte er sich noch einmal auf und sagte: »Betet für die räudige Seele – betet für Marie Verwahnen! – Der Satan ist in ihr! – Der Satan …! – Der Satan …!«

Dann hinkte er heimwärts.

Aber sein küsterliches Prestige war dahin; sein Stern sank mit dem heutigen Tage tiefer und tiefer. Die Menge ist wandelbar. Sie hörte auf Herrn Eusebius Dornkat, der mit tiefer Erkenntnis und Weltweisheit die ruhige Erklärung abgab: »Kinder, das war ja gar nicht der Satan. – Das war der schwarze Isidor, Schlaume Herzlieb sein kapitaler Springbock.«

»Gottdomie noch mal!« riefen die meisten.
Da gingen alle ruhig auseinander.

Herr Eusebius Dornkat hatte die richtige Beschwörungsformel gefunden.
Und Isidor?
Desgleichen.
Meckernd, wenn auch mit einer faustgroßen Schwellung an der Hinterseite behaftet, hatte er den Schutz des Herzliebschen Stalles gefunden.

Schlaume war glücklich. – – –

Autor: Gisela

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