Der Engel

von Rainer Maria Rilke

KI generiert
Mit einem Neigen seiner Stirne weist
er weit von sich was einschränkt und verpflichtet;
denn durch sein Herz geht riesig aufgerichtet
das ewig Kommende das kreist.

Die tiefen Himmel stehn ihm voll Gestalten,
und jede kann ihm rufen: „Komm, erkenn!“ -

Gib seinen leichten Händen nichts zu halten
aus deinem Lastenden. Sie kämen denn
bei Nacht zu dir, dich ringender zu prüfen,
und gingen wie Erzürnte durch das Haus
und griffen dich, als ob sie dich erschüfen
und brächen dich aus deiner Form heraus.

Aus: Neue Gedichte (1907)
Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Trauer

von Selma Meerbaum Eisinger

Lichter spiegeln sich in schmutzig-nassen Pfützen,
gelb und fettig, schmutzig auch und schwer.
Helle Häuserfenster können gar nichts nützen.
Tore, Hallen hehr und leer.

Liegt der Nebel müde auf den Straßen
und der Regen rinnt und rinnt.
Menschen sind zu traurig, um sich noch zu hassen,
und es hüstelt irgendwo ein Kind.

In den Gärten liegen halbverfaulte Blätter,
stehen Bänke, traurig, nass und grau,
kommt die Sonne immer seltener und später,
nimmt’s der Mond mit Scheinen nicht genau.

Dringt das halbe Tageslicht noch durch den Nebel,
trüb und grau und klebrig schwer.
Klirrt die Wache schläfrig mit dem Säbel
und ein nasser Vogel zittert sehr.

Stehen dürre, hungrige Pferde
dampfend da, mit müden Augen.
Ganz durchweicht, verstreut auf nasser Erde,
kann der Hafer nicht mehr taugen.

An der moderigen Mauer
eine nasse Katze schleicht.
Mit hervorgekehrtem Pelz ein Bauer
schaut, ob ihm das Geld noch reicht.

Dez.1940
Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942)

Gebet

von Rainer Maria Rilke

Viktor Sieger (1843-1905)

Ich sprach von Dir als von dem sehr Verwandten,
zu dem mein Leben hundert Wege weiß,
ich nannte Dich, den alle Kinder kannten,
für den ich dunkel bin und leis.

Ich nannte Dich den Nächsten meiner Nächte
und meiner Abende Verschwiegenheit,
und Du bist der, in dem ich nicht geirrt,
den ich betrat wie ein gewohntes Haus.
Jetzt geht Dein Wachsen über mich hinaus:
Du bist der Werdenste, der wird.

Aus dem Worpsweder Tagebuch 4.10.1900

XIII. Sonett an Orpheus

Sei und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.

Text: Rainer Maria Rilke 1875-1926

An meinen Lieblingsbaum

von Charlotte von Ahlefeld

Bildquelle: Pinterest – Russenlinde
Die Träume, die in stillen Feierstunden,
Die dunkler Schatten mir so oft verlieh,
Die süße Ruh, die ich bei Dir gefunden,
Mein Lieblingsbaum, o die vergeß‘ ich nie!

Oft sah ich neben Dir die Sonne untergehen,
Entzückt von ihres Anblicks Majestät.
Oft hat des Herbstes lindes, kühles Wehen
Mit Deinem bunten Laub mich übersäet.

Vor meinen Blicken schwebten holde Bilder,
Im lichten Glanz der Jugendfantasie,
Da träumt ich mir des Schicksals Härte milder,
Und jeder Mißton wurde Harmonie.

Und liebend grub ich einst in Deine Rinde
Den Nahmenszug, der in mir brannte, ein;
Auch darum wirst Du mir, Du stille Linde,
Vor allen Bäumen ewig theuer seyn.

Wenn sich in Deinen blüthenvollen Zweigen
Des Westes leiser Odem kaum bewegt,
Fühlt mein Gemüth sich durch das tiefe Schweigen
Der heiligen Natur so ernst erregt.

Dann denk‘ ich all‘ der Wünsche, die vergebens
In meine Seele kamen, und entflohn,
Und seufze: wär‘ der kurze Traum des Lebens
Vorüber, wie so manche Hoffnung schon.

Und wäre einst nach meiner Tage Mühen,
O Baum, den stets mein Herz mit Liebe nennt,
Ein stilles Grab mir unter Dir verliehen,
Du wärest dann mein liebstes Monument.
Charlotte von Ahlefeld (1777-1849)

Der Herbst

von Gustav Sack

KI generiert
So komm, du wilder West,
und sing geheimnisvoll und runenkundig
in meinen Kiefern und Wacholderbüschen
das uralt düstere Jahreslied des Todes!
Und reiß aus meinem Herz des Sommers Freuden,
reiß sie gleich müd gewordenen Blättern ab,
auf daß mein Fuß sie raschelnd von sich stoße.
So wie von jenem Ahorn taumelnd dort
die schwarzgefleckten Blätter landwärts wirbeln,
laß all des Sommers gaukelnde Gestalten
zu krausen Scharen windgewiegt
ins graue Land Vergessenheit hinflattern!
Und dann, oh West, oh wilder West,
saug aus des Weltmeers weitgeebbten Brüsten
dir Sturmeskräfte hoch und schleudere mich
hohnlachend jenen Spukgestalten nach
und brause, laut aus vollen Lungen tobend,
über das Sommerglück, das du zerstört!
Gustav Sack (1885-1916)

Blätterfall

von Heinrich Leuthold

Bild von Rebekka D auf Pixabay

Leise, windverwehte Lieder,
mögt ihr fallen in den Sand!
Blätter seid ihr eines Baumes,
welcher nie in Blüte stand.

Welke, windverwehte Blätter,
Boten, naher Winterruh,
fallet sacht! Ihr deckt die Gräber
mancher toten Hoffnung zu.

Heinrich Leuthold (1827-1879)



Autumn Leaves

The falling leaves drift by my window
The falling leaves of red and gold
I see your lips the summer kisses
The sunburned hands I used to hold

Since you went away the days grow long
And soon I’ll hear old winter’s song
But I miss you most of all my darling
When autumn leaves start to fall

Since you went away the days grow long
And soon I’ll hear old…

Eva Cassidy
Komponist: Joseph Kosma

Gesang der Geister über den Wassern

von Johann Wolfgang von Goethe

Die Welle – Carlos Schwabe (1866-1926)

Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muß es,
Ewig wechselnd.

Strömt von der hohen,
Steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels,
Und leicht empfangen,
Wallt er verschleiernd,
Leisrauschend
Zur Tiefe nieder.

Ragen Klippen
Dem Sturz entgegen,
Schäumt er unmutig
Stufenweise
Zum Abgrund.

Im flachen Bette
Schleicht er das Wiesental hin,
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.

Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler;
Wind mischt vom Grund aus
Schäumende Wogen.

Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!

Auf der Heide blühn die letzten Rosen

Auf der Heide blüh’n die letzten Rosen;
braune Blätter fallen müd vom Baum,

und der Herbstwind küsst die Herbstzeitlosen;
mit dem Sommer flieht manch Jugendtraum.

Möcht einmal noch wie damals kosen,
möcht‘ vom Frühling träumen und vom Glück.

Auf der Heide blüh’n die letzten Rosen,
doch die Jugendzeit kehrt nie zurück.

Versunken ist die Frühlingszeit,
kein Vogel singt im Lindenhain;
die Welt verliert ihr Blütenkleid
und bald wird Winter sein.
Verlassen ist der Holderstrauch,
an dem ich einst geküsst.
Es blieb ein Duft, der wie ein Hauch,
aus fernen Tagen ist.

Auf der Heide blüh’n die letzten Rosen,
braune Blätter fallen müd vom Baum,

und der Herbstwind küsst die Herbstzeitlosen;
mit dem Sommer flieht manch Jugendtraum.

Möcht einmal noch wie damals kosen,
möcht‘ vom Frühling träumen und vom Glück.

Auf der Heide blüh’n die letzten Rosen –
ach, die Jugendzeit kehrt nie zurück.
Holde Jugend, holde Jugend –
kämst du einmal doch zu mir zurück.

Text (1935): Bruno Balz 1902-1988

interpretiert von Herbert Ernst Groh

Herbstlied

von Hans Eckardt Wenzel und Band

Text:

Feinslieb, nun ist es Blätterbraun
Schon wieder in den Spitzen
Wann wir unterm Kastanienbaum
Am Abend fröstelnd sitzen
Das Jahr geht fort mit schwerer Fracht
Es bindet sich die Schuh‘
Ich bin so traurig heute Nacht –
Und du, du lachst dazu!

Feinslieb, die schwarze Jacke hängt
Die Schultern ab mir wieder
Wann schon so früh das Dunkel fängt
Uns und die Kält‘ die Glieder
In deinen Augen glimmt noch leis‘
Der Sommer voller Ruh‘
Ich wein‘, weil ich nicht weiter weiß –
Und du, du lachst dazu!

Feinslieb, das war es also schon
Der Sommer ist vertrieben
Die Vögel sind auf und davon
Und wir sind hier geblieben
Fremd zieh‘ ich ein, fremd zieh‘ ich aus
Ich weiß nicht, was ich tu‘!
Heut‘ Nacht, verwelkt ist mein Zuhaus‘ –
Und du, du lachst dazu!

Feinslieb, komm stirb mit mir ein Stück
Sieh, müd‘ die Blätter schunkeln
Wir dreh’n das Jahr doch nicht zurück
Und seh’n uns nicht im Dunkeln!
Lass in dem Kommen, Bleiben, Geh’n
Zertanzen uns die Schuh‘
Ich will noch soviel Himmel seh’n –
Und du, du lachst dazu!