Du bist der Vogel, dessen Flügel kamen, wenn ich erwachte in der Nacht und rief. Nur mit den Armen rief ich, denn dein Namen ist wie ein Abgrund, tausend Nächte tief. Du bist der Schatten, drin ich still entschlief, und jeden Traum ersinnt in mir dein Samen, – du bist das Bild, ich aber bin der Rahmen, der dich ergänzt in glänzendem Relief.
Wie nenn ich dich? Sieh, meine Lippen lahmen. Du bist der Anfang, der sich groß ergießt, ich bin das langsame und bange Amen, das deine Schönheit scheu beschließt.
Du hast mich oft aus dunklem Ruhn gerissen, wenn mir das Schlafen wie ein Grab erschien und wie Verlorengehen und Entfliehn, – da hobst du mich aus Herzensfinsternissen und wolltest mich auf allen Türmen hissen wie Scharlachfahnen und wie Draperien.
Du: der von Wundern redet wie vom Wissen und von den Menschen wie von Melodien und von den Rosen: von Ereignissen, die flammend sich in deinem Blick vollziehn, – du Seliger, wann nennst du einmal Ihn, aus dessen siebentem und letztem Tage noch immer Glanz auf deinem Flügelschlage verloren liegt... Befiehlst du, dass ich frage?
Es treibt der Wind im Winterwalde die Flockenherde wie ein Hirt und manche Tanne ahnt, wie balde sie fromm und lichterheilig wird, und lauscht hinaus. Den weißen Wegen streckt sie die Zweige hin – bereit, und wehrt dem Wind und wächst entgegen der einen Nacht der Herrlichkeit.
Gebirgige Flusslandschaft – Caspar David Friedrich (1774-1840)
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge und keine Heimat haben in der Zeit. Und das sind Wünsche: leise Dialoge täglicher Stunden mit der Ewigkeit.
Und das ist Leben: Bis aus einem Gestern die einsamste von allen Stunden steigt, die, anders lächelnd als die andern Schwestern, dem Ewigen entgegenschweigt.
Es gibt so wunderweiße Nächte, drin alle Dinge Silber sind. Da schimmert mancher Stern so lind, als ob er fromme Hirten brächte zu einem neuen Jesuskind.
Weit wie mit dichtem Demantstaube bestreut, erscheinen Flur und Flut, und in die Herzen, traumgemut, steigt ein kapellenloser Glaube, der leise seine Wunder tut.
Die Winterstürme durchdringen die Welt mit wütender Macht. – Da sinkt auf schneeigen Schwingen die tannenduftende Nacht…
Da schwebt beim Scheine der Kerzen ganz leis nur, kaum, daß du’s meinst, durch arme irrende Herzen der Glaube – ganz so wie einst… Da schimmern im Auge Tränen, du fliehst die Freude – und weinst, der Kindheit gedenkst du mit Sehnen, oh, wär es noch so wie einst!…
Du weinst!… die Glocken erklingen – es sinkt in festlicher Pracht herab auf schneeigen Schwingen die tannenduftende Nacht.
Du bist, als ob du segnen müsstest wen die Madonnen längst vergaßen; und oft, im Sommer, wenn du wüsstest: da kamst du von den Abendstraßen so klar, als ob du Kinder küßtest, die traurig wo am Saume saßen.
Und jeder Rhythmus, der verschwiegen aus stillen Wiesen aufgestiegen, schien innig sich dir anzuschmiegen, bis alles Winken, alles Wiegen nur in dir war und nirgends mehr. Und mir geschah: die Welt verginge – und das Vermächtnis aller Dinge, ihr letztes Lied, bringst du mir her.
Die hohen Tannen atmen heiser im Winterschnee, und bauschiger schmiegt sich sein Glanz um alle Reiser. Die weißen Wege werden leiser, die trauten Stuben lauschiger.
Da singt die Uhr, die Kinder zittern: Im grünen Ofen kracht ein Scheit und stürzt in lichten Lohgewittern, – und draußen wächst im Flockenflittern der weiße Tag zur Ewigkeit.
Ich sprach von Dir als von dem sehr Verwandten, zu dem mein Leben hundert Wege weiß, ich nannte Dich, den alle Kinder kannten, für den ich dunkel bin und leis.
Ich nannte Dich den Nächsten meiner Nächte und meiner Abende Verschwiegenheit, und Du bist der, in dem ich nicht geirrt, den ich betrat wie ein gewohntes Haus. Jetzt geht Dein Wachsen über mich hinaus: Du bist der Werdenste, der wird.
Aus dem Worpsweder Tagebuch 4.10.1900
XIII. Sonett an Orpheus
Sei und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung, den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung, dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.
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