Lied des Kindes

Es war noch klein.
Ein Kindlein, das allein den Weg nicht fand.
Es lief im Traum entlang an Dorf und Feld,
während es fern von aller Welt
ein Liedchen sang.

Es suchte einen Ort,
der Heimat war, wo man es kannte,
gütig es rief und es mit Namen nannte,
wo es geborgen und in Gottes Hand
am Abend schlief.

Die kleine Melodie
sang es in sich hinein, damit die Angst verflog,
und als es um des Weges Ecke bog,
da war ein Feuer angefacht,
wohl in der Nacht.

Es knisterte und loderte hinauf.
Staunend stand das Kind, schwieg und schaute.
Dort flackerte, als schon der Morgen graute,
die lichtumhüllte, engelhafte Kraft,
von Gott gebracht.

Es war das Licht der Welt
tief ihm im Kindersinn.
Die Sehnsucht blieb, der Traum, er ging.
Als tausend Lichter brannten an des Baumes Pracht,
lauschte das Kind dem ew’gen Lied
der stillen Nacht.

Weihnacht

Ich wünsche Euch…

Die Winterstürme durchdringen
die Welt mit wütender Macht. –
Da sinkt auf schneeigen Schwingen
die tannenduftende Nacht…

Da schwebt beim Scheine der Kerzen
ganz leis nur, kaum, daß du’s meinst,
durch arme irrende Herzen
der Glaube – ganz so wie einst…
Da schimmern im Auge Tränen,
du fliehst die Freude – und weinst,
der Kindheit gedenkst du mit Sehnen,
oh, wär es noch so wie einst!…

Du weinst!… die Glocken erklingen –
es sinkt in festlicher Pracht
herab auf schneeigen Schwingen
die tannenduftende Nacht.

Rainer Maria Rilke, 1875-1926