Kindheitstrauma

Felix Schlesinger (1833-1910)
Ich überflog in meinen Träumen
die dichten Hagebutten-Hecken,
saß unter Kirsch- und Apfelbäumen,
an vielen lieb gewordenen Ecken.

Bemooste Dächer unsres Hauses -
uralt die Schindeln auf den Sparren;
wo Spatzen unterm Giebel hausten,
hör‘ noch die Dielenböden knarren.

Klein war ich, nahm noch alles hin,
was vorgelebt mein Dasein prägte.
Nichts Übles kam mir in den Sinn,
wenn niemand die Kaninchen pflegte.

Saß auf dem grauen Leiterwagen,
den Vater zog bis in den Bruch,
wir pflückten Gras und Löwenzahn
bis sie geschlachtet, fett genug.

Saßen in viel zu engen Ställen,
auf ihrem Kot mit feuchten Füßen,
bis Vater sie nach langem Quälen
mit ‚Fangschlag‘ hat erlösen müssen.

Ein Trauma ist es mir geworden,
als „Hansi“ an den Pfosten hing,
ließ meiner Kindheit Liebe morden,
bis mir der Appetit verging.

Jasmin

Bild von Henryk Niestrój auf Pixabay
Des Lenzes blaues Band entschwebt,
das Jahr teilt sich, man riecht des Juni’s Süße;
der Lindenduft scheint übers Land geweht,
Flora ersehnt sich durstig Regengüsse.

Die Sterne des Jasmins sind schon verblüht -
in weiß getaucht war mir der Kindheit Garten,
wenn jeder Stern geliebte Düfte sprühte,
geschlossenen Auges konnt‘ ich ihn erraten.

Aus weiten Fernen irrt zu mir der Duft –
längst abgeblüht, aus der Vergangenheit;
hör‘, wie mich jeder Strauch des Weges ruft -
in allen Blütensternen weint mit mir die Zeit.

Bittersüßer Trank

The Love Potion – Evelyn de Morgan (1855–1919)
Vorübergehn an altbekannten Orten,
ist wie ein Öffnen von Erinnerungspforten,

denn jeder Schritt auf einst gegangenen Wegen
wird Nostalgie verklärt darüberlegen;

oft lenken Wege uns durch Friedhofstüren,
die ausgetreten in vergessene Winkel führen,

und andere führen uns zu lang verdrängten Dingen,
um dort Vergebung für Vergangenes zu erringen;

darunter sind, auf brachem Feld des Lebens,
längst abgeblüht, die uns im Geiste schweben.

Das Schicksal mag ein Weichensteller sein,
lenkt unseren Zug in richtige Gleise ein,

doch in der Seele fährt Erinnerung mit,
ob gut, ob schlecht – sie zeichnet jeden Schritt.

In lächelndem Gedenken tief versunken,
hab ich den bittersüßen Trank der Zeit getrunken.

Nikolaustag

St. Nikolaus Bescherung – Johann Matthias Ranftl (1804 -1854)
Als ich ein kleines Mädchen war,
musste ich lang auf ihn warten.

Es waren viele Kinder da,
in unsrem Kindergarten.

Es duftete nach Tannengrün,
das war zum Kranz gebunden.

Zwei Kerzen darauf brannten ihm.
So warteten wir Stunden.

Wir bastelten so manches Ding,
malten auf buntem Papier.

Dann endlich kam er, und er ging
durch unsren Raum zu mir.

Brav sollt ich sein, das ganze Jahr,
ein wohlerzogenes Kind.

Und da ich dort recht artig war,
ging alles ganz geschwind.

Knecht Ruprecht mit der Rute schwieg,
hob an mich zu begrüßen.

Der Nikolaus ein Büchlein hielt,
ein Sack zu seinen Füßen.

Ein Plätzchen reichte mir der Mann
ganz gütig, lieb und heiter.

Ich sei ein gutes Kind und dann
ging er zum nächsten weiter.

Nur damals hab ich ihn gesehen.
Er liebte Weihnachtslieder.

Er frommte unser Taggeschehen.
Ich sah ihn niemals wieder.

Heut liebt man eher den Weihnachtsmann
der Coca-Cola-Werbung;

amerikanisch ist der Drang,
kulturlos seine Erben. 

Vater – 23.09.1927

Schon sechs Jahre sind vorbeigegangen,
seit ich dich zum letzten Mal gesehen;
nur gedanklich kann ich heut zu dir gelangen,
bist längst abgerufen, musstest gehen. 

Hatte angstvoll meinen Blick auf dich gerichtet,
als Kind verehrt, dein Handwerk und Geschick.
Stets warst du dem Job im Werk verpflichtet,
der Wohlstand brachte, kein Familienglück.

Warst einst in eine Welt hineingeboren,
die hasserfüllt, barbarisch, voller Leid.
Kanntest nur das. - Vom Kriege auserkoren,
fiel dann dein Vater, führertreu, in dieser Zeit.

Du warst ein Junge von erst fünfzehn Jahren,
da rief man dich zum Dienen in den Krieg;
dort fing man dich, in seinen letzten Tagen,
in Frankreichs Lager gingst du, ohne Sieg. 

Als du heimkamst, war deine Welt verdorben,
der alte Sinn geblieben, doch er schwieg;
der Gleichgesinnten Hand hast du erworben, 
die dich dann liebend in die Ehe trieb.

Kinder mussten sein – so war es üblich;
allen zeigen, dass man’s machen kann.
Das Erziehen, lästig und verdrießlich,
man schlägt sie lieber, dann und wann. 

Im bürgerlichen Haus warst du Tyrann, 
der Dominanz verpflichtet, Ehefrau und Kinder.
Nicht in die Augen schauen, galt es dann,
wie einem Hund, der beißt sonst seinen Schinder. 

Du warst einst stark, doch Alter brachte Schwäche
und eine neue Gattin - das, was war, zertrümmert;
als wenn nur noch dein Schatten zu mir spräche,
unter Tränen: „Hab mich nie um dich gekümmert!“

Hab längst vergeben, doch vergaß ich’s nie,
hat viele Lehren mit auf meinen Weg gegeben.
Bin ich ein Stück weit nicht auch so wie sie?
So viele Fragezeichen stehn in meinem Leben. 

Herzschlag an Herzschlag

Sir Frank Dicksee 1823-1928

Wie ich dich liebe, ist schwer zu beschreiben:
Du fließt in all mein Denken und Tun!
So, wie die Blumen zur Sonne sich neigen,
lässt dies Gefühl in mir niemals mich ruh’n.
 
Stets ist es da, so mächtig und bindend,
dass alles andere ganz unwichtig wird.
In deinen Augen, so tief wiederfindend,
dass meine Seele den Weltschmerz verliert.
 
Herzschlag an Herzschlag spür ich deine Nähe,
wie sich dein Geist mit dem meinigen eint.
Hoffnung, tief in mir, dass niemals vergehe,
was uns verbindet und so einzig erscheint.
 
Du bist als Mensch so besonders und wichtig –
nie hab ich Gleiches schon einmal verspürt.
Dein Blick – so tief, doch der Alltag macht nichtig,
was unsere Seelen zusammengeführt.
 
Reine Gedanken, entfesselte Triebe,
halten das unsichtbar schmiegende Band.
Worte, gesprochen, geschrieben in Liebe,
sind wie ein Wandeln an weltfernem Strand.

Nicht alle Schmerzen sind heilbar

Edmund Blair Leighton (1852-1922) – The Unknown Land
Nicht alle Schmerzen sind heilbar, denn manche schleichen
sich tiefer und tiefer ins Herz hinein,
und während Tage und Jahre verstreichen,
werden sie Stein.

Du sprichst und lachst, wie wenn nichts wäre,
sie scheinen zerronnen wie Schaum.
Doch du spürst ihre lastende Schwere
bis in den Traum.

Der Frühling kommt wieder mit Wärme und Helle,
die Welt wird ein Blütenmeer.
Aber in meinem Herzen ist eine Stelle,
da blüht nichts mehr.
Ricarda Huch (1864 -1947)

70

norwegische Künstlerin Lisa Aisato (*1981)
In der Bilderkiste kramen –
ist doch schon so lange her,
und die Stellen vieler Namen
bleiben trotz des Grübelns leer.

Wie herausgebrochene Szenen
meines Daseins Weggefährten,
die einst unter tausend Tränen,
mich den Ernst des Lebens lehrten.

Bilder, die den Glanz verloren –
schließ‘ den Deckel meiner Kiste.
Fotografisch eingefroren,
Menschen, die ich einst vermisste.

Das zeigt meinen Baum des Lebens,
den der Geist der Ahnen pflanzte,
dessen Pflege - oft vergebens,
Löcher in die Seele stanzte.

Wenn ich vor dem Spiegel stehe,
sehe ich ein zitt’rig Bild.
„Bin ich die, die ich dort sehe?“,
frag ich mich und lächle mild.

Osterzeiten

Foto: Gisela Seidel
Ein letzter Tag in bunten Osterzeiten,
der, wie so manch ein and‘rer Tag verging,
gleich einem Bogenstrich, auf alten Saiten,
bereit zum Sprung, ein wundgescheuert‘ Ding. 

Gefärbte Eier, wie an Kindertagen -
niemand, der lacht und strahlt vor Glück.
Allein bleib ich mit all‘ den vielen Fragen,
nach denen, die aus meiner Welt entrückt.

Doch redsam ist die Stille in den Wänden,
gibt mir ihr Geist, der immer noch bei mir,
die Antwort in mein Herz: „Es wird nie enden!
Bist du bei mir, so bin ich auch bei dir.“  

In dieser Hoffnung werd‘ ich wieder Eier färben, 
werd‘ denken an vergang’ne Ostertage;
trübe Gedanken sollen nicht verderben,
was ich in all‘ der Zeit erfahren habe. 
Ich (Ostern 1957 + 1958)

Nach Ostern

Vladimir Kush (*1965 )
Kein Läuten mehr – die Osterglocken schweigen!
Still lastet Schwere auf dem kalten Tag,
und wieder liegen Fröste auf den Zweigen,
als wenn die Welt uns nicht mehr blühen mag.

Das Vogelsingen ist heut leis geworden.
Die Straßen leer, selbst Kinderlachen schweigt.
Das Leben scheint mir beinah ausgestorben,
wenn rauer Wind die frischen Wipfel streift.

Die Jahre sind so schnell dahingegangen.
Es blieb ein welker Kranz aus ferner Zeit.
Ob meinem wehen Herzen noch, dem bangen,
ein wenig Zuversicht erhalten bleibt?

Wohl dem, der aus des Lebens schweren Tagen
und aus den Stunden ungetrübten Glücks
ein Leuchten darf in seiner Seele tragen…
ein Sonnenlächeln göttlichen Geschicks.