Der Schutzengel

von Rainer Maria Rilke

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Du bist der Vogel, dessen Flügel kamen,
wenn ich erwachte in der Nacht und rief.
Nur mit den Armen rief ich, denn dein Namen
ist wie ein Abgrund, tausend Nächte tief.
Du bist der Schatten, drin ich still entschlief,
und jeden Traum ersinnt in mir dein Samen, –
du bist das Bild, ich aber bin der Rahmen,
der dich ergänzt in glänzendem Relief.

Wie nenn ich dich? Sieh, meine Lippen lahmen.
Du bist der Anfang, der sich groß ergießt,
ich bin das langsame und bange Amen,
das deine Schönheit scheu beschließt.

Du hast mich oft aus dunklem Ruhn gerissen,
wenn mir das Schlafen wie ein Grab erschien
und wie Verlorengehen und Entfliehn, –
da hobst du mich aus Herzensfinsternissen
und wolltest mich auf allen Türmen hissen
wie Scharlachfahnen und wie Draperien.

Du: der von Wundern redet wie vom Wissen
und von den Menschen wie von Melodien
und von den Rosen: von Ereignissen,
die flammend sich in deinem Blick vollziehn, –
du Seliger, wann nennst du einmal Ihn,
aus dessen siebentem und letztem Tage
noch immer Glanz auf deinem Flügelschlage
verloren liegt...
Befiehlst du, dass ich frage?
Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Gott sei Dank!

Evening glow – Andrii Kateryniuk (*1994)
Du bist am Morgen mein Beginnen,
am Abend bist Du meine Rast;
wenn manche Tage wirr beginnen,
dann bist Du’s, der’s in Rahmen fasst.

Du lässt gedankenfrei mich träumen,
wenn ich im Geist der Nacht versinke;
flutest mit Atemluft die Räume,
hältst mich, damit ich nicht ertrinke.

Du schenktest mir die Zeit des Lebens,
was sinnlos schien, ist längst ein Wissen;
bist mir der Sinn all meines Strebens,
bist mir ein Wollen, nicht ein Müssen.

Nachtzeit des Lebens

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Zünde ein Licht an in der Nachtzeit des Lebens,
wag dich durch das Dunkel, Schritt für Schritt;
wenn deine Füße über Hindernisse schweben,
dann hebt der dienende Geist dich ein Stück.

Mache Fragliches fassbar, beleuchte die Seiten,
manchmal wird der Grund dir unsicher scheinen;
geh durch all die quälenden Unwägbarkeiten,
lass die Stille in dir die Verwirrtheit verneinen.

Der Erkenntnis der Wahrheit reiche die Hände,
sie leitet auf sicherem Wege dein Schaffen;
folge der Weisheit durch erschlossnes Gelände,
wo große Empfindungen weinen und lachen.

Heulende Wölfe

Der Wolf in mir, ist wieder erwacht.
Er geisterte durch die Vollmondnacht,

die Lefzen triefend, die Zähne gefletscht,
zog er durch die Stadt, wie vom Teufel gehetzt.

Ist nur der Vollmond! - Wer ließ ihn frei?
Wer sprach die verbotene Litanei?

Was willst du in mir, du Seelendunkel?
Bist nur ein Trugbild im Vollmond-Gefunkel.

Deine roten Augen fürchte ich nicht!
Bist nur von Nacht gesponnenes Licht.

Wie der Mond versteck ich die dunkle Seite,
dass man verkennt, was ich selbst nicht begreife.

Es gibt viele Wölfe im eigenen Lande,
fürchten das Licht, wie die Treiberbande.

Wenn die Sterne tief am Nachthimmel stehen,
hör ich sie heulend den Mond anflehen.

Hell und Dunkel im Streit - ein Für und Wider!
Mondscheintraum – tiefgründiges Auf und Nieder.

Was ist die Welt?

von Hugo von Hoffmannsthal

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Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht.
Daraus der Geist der Gottheit strahlt und glüht,
daraus der Wein der Weisheit schäumt und sprüht,
daraus der Laut der Liebe zu uns spricht.

Und jedes Menschen wechselndes Gemüth,
ein Strahl ist’s, der aus dieser Sonne bricht,
ein Vers, der sich an tausend and’re flicht,
der unbemerkt verhallt, verlischt, verblüht.

Und doch auch eine Welt für sich allein,
voll süß-geheimer, nie vernomm’ner Töne,
begabt mit eig’ner, unentweihter Schöne,
und keines Andern Nachhall, Widerschein.
Und wenn du gar zu lesen d’rin verstündest,
ein Buch, das du im Leben nicht ergründest.

Hugo von Hoffmannsthal (1874-1929)

Materie und Geist

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Nicht trennbar sind die Elemente,
auch nicht Materie und Geist;
sie sind verbunden, die Latenten,
die Geist zu kontrollieren weiß.

So richtet Ausmaß der Kontrolle,
sich nach Materie bedingter Regel,
sie zieht heran des Geistes Rolle,
der prüft die Richtung unserer Segel.

Gemeinsam machen sie Erfahrung,
sich zu entfalten, zu entwickeln,
werden des Lebens Offenbarung
als Funken Göttlichkeit vermitteln.

Wintermüde

Friedlich, unter Wintererde,
träumt der Frühling vom Erwachen;
der schon lang im Schlaf verfangen,
will sich auf die Reise machen.

Bald schon färbt im kühlen Grunde,
er die Erde bunt und grün;
Tränentuch und dunkle Wolken,
lässt er mit dem Winter ziehn.

Noch im Traum, geschlossnen Auges,
streckt er die gelähmten Flügel,
schüttelt ab die Winterschwere,
bricht das Jahreszeiten Siegel.

Kalt und keusch, die ersten Lichter,
mondbeglänzt die dunklen Auen;
zaubert Helle den Gesichtern,
Sonnenschein und Urvertrauen.

Wer die Wahl hat

Bild von Arek Socha auf Pixabay
Das Schicksal dieser Tage, unumgänglich,
als nicht vermeidbar mögen sie dir scheinen;
das Resümee daraus – es ist vergänglich,
die Wahl aus vielen Möglichkeiten eine.

Du wählst den Weg nach deinem Wollen;
lass ruhig um dich die Massen toben,
bring einen schweren Stein ins Rollen.
Die Inhaltslosen schwimmen immer oben!

Wahl-O-Mat

Richtig oder falsch?
Am Kreuz hängt die Wahl.

Wahre Größen vermissen,
Maulhelden ertragen,

Anstifter zum Falschen,
Steigbügelhalter zum Bösen;

Maskengesichter und Klugschwätzer,
Egoisten und Besserwisser.

Tauwetter für Olaf -
Besonnenheit Macher
lang währender Prozesse.

Kettenhunde -
die bellen nur, beißen nicht,
wollen nur spielen?
Wehe, wenn sie losgelassen!

Treibhaus der Ideologien,
Ort der seltsamen Auswüchse,
Heimaterde erstickend,
invasiv und gefährlich.

Unterwandern, manipulieren, täuschen -
Wurzeln des Übels.

Wählen ist Qual!

Auf- oder Abstieg -
Deutschland wählt,
ohne Gott auf dem Zettel.

Allein

Wanderer über dem Nebelmeer – Caspar David Friedrich (1774-1840)
Dem Körper gibt’s du seinen Teil,
zeigst sein Gesicht, das schön und heil;
pflegst ihn und schmückst sein Kleid,
mit Lust und auch ein wenig Leid
sorgst du für Leib und Seele,
dass die Zufriedenheit nicht fehle.

Bist stolz auf Leistung und Erfolg,
verehrst dein Heimatland und Volk;
gehst von der Arbeit frei nach Haus,
mental machst du die Lichter aus,
schaust tief ins Innerste hinein,
spürst, jeden Weg gehst du allein.

Dann kommen Träume in der Nacht. -
Was ist’s, was dich so ängstlich macht?
Es ist doch nur des Mondes Licht,
das tief in deine Seele spricht:
„Allein, allein!“ – So gehst du hin;
lautlos und einsam, ohne Sinn.

Trotz vieler Menschen um dich her,
scheinst du ein Tropfen nur im Meer.
Du fühlst in dir die fremde Kraft,
die plötzlich in dir Klarheit schafft;
verwischt die Grenzen deines Seins
mit sachter Hand, du fühlst dich Eins.

Spürst alles, was da lebt und leidet,
die Mauer, die Geschöpfe scheidet;
siehst auch dein Glück, das kurz belohnte
und schnell verging, das altgewohnte.
Es greift nach deines Herzens Sehnen;
mit tiefen, nie gekannten Tönen,

rufst du nach dem, den du nie nennst,
den du bisher vom Alltag trennst;
hörst noch, wie all die anderen lachen,
wie hinter dir sie Späße machen.
SIE sind allein, du bist es nicht! –
weil in dir Licht und Weisheit spricht!

Reißt um die selbst erbaute Mauer -
nur Selbstbefreiung ist von Dauer.
Das höchste Glück wird nur der finden,
der anfängt, selbst sich zu ergründen,
um dann erlöst vom Weltgeschehen,
in Gott geruht, nach Haus zu gehen.