Litanei der Bitternis

von Max Hermann-Neiße
Stolperstein
Bitter ist es, das Brot der Fremde zu essen,
bittrer noch das Gnadenbrot,
und dem Nächsten eine Last zu sein.
Meine bessren Jahre kann ich nicht vergessen;
doch nun sind sie tot,
und getrunken ist der letzte Wein.

Ringsum ist eine ganze Welt verfallen,
alles treibt dem Abgrund zu,
nur noch Schwereres steht uns bevor,
denn wir treiben hilflos mit den Trümmern allen;
immer denkst auch du
an das Glück, das dein Gemüt verlor.

Selbst die große Stadt muss sich verstellen;
dunkel sein wie Dörfer einst,
die verwunschnen, die man fremd durchfuhr,
seltsam klingt, wie damals, nachts, der Hunde Bellen,
dass du trostlos weinst,
angeweht vom Spuk der Heimatflur.

Bitter ist es, vor jedem neuen Tage
Angst zu haben, niemehr frei
von geheimen Sorgen, Reue, Gram,
furchtgeplagt bei jedem neuen Glockenschlage,
dass er letzter sei,
eh man recht vom Leben Abschied nahm.

Ungemilderte Bitternis im Herzen.
bin ich längst mir selbst zur Last
zwischen Morgenrot und Abendrot.
Bitter ist es, alles Glück sich zu verscherzen,
ungebetner Gast,
bittrer, und das Bitterste: der Tod.

Max Hermann-Neiße (1886-1941)

Max Hermann-Neiße floh aufgrund seiner körperlichen Einschränkung des Kleinwuchses aus Deutschland, wo neben rassenhygienischen Vorstellungen der Eugenik, kriegswirtschaftliche Erwägungen während des Zweiten Weltkrieges zur Begründung der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ herangezogen worden waren.

Zitat Uni Münster: „Seine Künstlerkarriere in Deutschland fand mit dem aufkommenden Nationalsozialismus ein jähes Ende. Nach dem Reichstagsbrand 1933 floh er mit seiner Frau über die Schweiz und die Niederlande nach Großbritannien. Max Hermann-Neißes Werke wurden in Deutschland von Nazi-Sympathisanten verbrannt. Der Schriftsteller ließ sich in London nieder, wo er allerdings auf die Unterstützung des Juweliers Alphonse Sondheimer angewiesen blieb, der ihm sein Leben und die Publikationen weiterer Werke finanzierte. Herrmann-Neißes Ehefrau wurde die Geliebte und spätere Ehefrau Sondheimers. 1938 erfolgte die Ausbürgerung aus Deutschland. In der britischen Gesellschaft konnte der Schriftsteller keinen Anschluss mehr finden, die britische Staatsbürgerschaft wurde ihm verwehrt.“