Ein Sonntag am streng katholischen Niederrhein um 1900

Gekürzter Auszug aus meinem autobiografischen Roman über Henriette Brey (1875-1953)
Familienbild in Geldern-Kapellen – Henriette Brey an der Hand ihrer Mutter

Hoch über den Baumwipfeln schaute der alte Kirchturm über die Gärten hinweg. Die von Linden umstandene Sankt-Georgs-Kirche, die nur wenige Schritte von unserem Haus entfernt lag, war unser tägliches Ziel. Nach Einsetzen des anfänglich leisen Glockengeläuts, welches dann bis zur Messe umso lauter und eindringlicher wurde, machten wir uns auf den Weg zum Gotteshaus, wenn Mutter Zeit hatte, bereits am Morgen in der Frühe. Nur manchmal begleitete uns Vater zur Abendandacht, denn nur selten kam er von seiner Arbeit rechtzeitig nach Hause. Aber am heiligen Sonntag, wenn die Glocken noch feierlicher als sonst klangen, gingen wir alle gemeinsam in feinstem Sonntagsstaat zur Messe.

Foto: Udo Spelleken

Vater hatte seinen großen Schnurrbart extra gezwirbelt, sein weißer Hemdkragen blitzte unter dem dunklen Anzug hervor. Zu besonderen Anlässen trug er einen schwarzen Zylinderhut, der ansonsten eingeklappt in einer Hutschachtel auf dem Schrank lag. In der Frühe, wenn wir nach unserem Tischgebet gemeinsam gegessen hatten, holte Vater seine Pfeife hervor und polierte den Kupferbeschlag des Pfeifenkopfes aus Maserholz, bis er glänzte. Anschließend kramte er den dunklen Tabak aus seinem ledernen Tabaksbeutel hervor und begann die Pfeife für den Heimweg nach der Kirche aufs Sorgfältigste zu stopfen. Mutter trug ihr schwarzes Sonntagskleid, das am Hals mit Spitze eingefasst und mit einer Gemme verziert war, dazu eine kleine schwarze Spitzenhaube. Meist legte sie ihre Perlenkette an, ein Geschenk von Vater, welche sie sonst, neben weiteren Goldkettchen, in einem Kästchen im elterlichen Schlafzimmer aufbewahrte.

Wir Kinder wurden ebenso fein herausgeputzt. Jedes Mädchen trug über ihrem von Mutter selbstgenähten Sonntagskleidchen eine Schürze, die mit einem Rüschenbesatz an den Armen endete und auf dem Rücken zu einer großen Schleife gebunden wurde. Zöpfe wurden auf dem Kopf festgesteckt und mit Spangen und Bändchen verziert. Die Jungen waren brav gekämmt und liefen mit Pomade fixierten Scheiteln, gesittet und artig, in schwarzen Hosen und weißen Hemden direkt hinter Vater durchs Kirchenportal.

Das Kircheninnere blieb trotz der vielen Menschen kühl. Wir tauchten unsere Finger in das Weihwasserbecken und suchten, nachdem wir uns bekreuzigt und uns demütig mit einem angedeuteten Knicks vor dem Altar verbeugt hatten, eilig die noch leeren Plätze auf den alten Holzbänken auf. Dann begann der Organist, feierlich auf der Orgel zu spielen, und es folgte der sonntägliche Ablauf der heiligen Messe.

Der Priester führte fort: „Der allmächtige Gott erbarme sich euer. Er lasse euch die Sünden nach und führe euch zum ewigen Leben. Amen.“

Es folgte die immer gleichbleibende Liturgie. Als der Höhepunkt der heiligen Opferfeier nahte, wo Christus unsere irdischen Opfergaben in seinen eigenen Leib und sein eigenes Blut verwandelt und so sich selbst dem himmlischen Vater opfert, saß ich ganz still und blickte ehrfürchtig zu den Lichtstrahlen empor, die durch die bunten Kirchenfenster fielen.

Der Pfarrer hatte einmal zu mir gesagt: „Weißt du nicht, Kind, dass in dem Augenblick, wo das heilige Sakrament auf den Altar kommt, der Himmel droben sich öffnet und Christus herniedersteigt und ankommt, dass Engelheerscharen vom Himmel zur Erde schweben und den Altar umringen, wo das heilige Sakrament des Herrn ist und alle mit dem Heiligen Geiste erfüllt werden?“

Die Dichterin vom Niederrhein – Henriette Brey (1875-1953)

So harrten wir aus, andächtig und erwartungsvoll, bis uns der Pfarrer den Segen erteilte und in den Tag entließ. Und manchmal glaubte ich Christus gesehen zu haben oder meinte, dass Maria von der Ecke des Altares gelächelt hätte, als ich sie ansah. Dann hing ich noch lange nach der Messe meinen Gedanken nach und grübelte den ganzen Nachmittag.

Gleich nach der Kirche steckte Vater seine Pfeife an und begann ein bedächtiges Gespräch mit Bekannten. Man redete über das neue Pumpenhaus, die geplante Raiffeisengenossenschaft oder über Politik. Alle sahen in ihrem Sonntagsstaat so anders aus als sonst, mit ihren geschwärzten Stiefeln, gesteiften Hemden und rotbackigen Sonntagsgesichtern. Ich kannte sie alle, die treuherzigen, von der Arbeit gezeichneten Gesichter der Männer und Frauen, auf die der stille Sonntagsfriede seinen sänftigenden Widerschein warf. Die sittsamen jungen Mädchen, mit ihren messingbeschlagenen Gesangbüchern, gingen vorbei an den jungen Burschen, deren Gedanken wohl schon von der Predigt hinüberschweiften zum kühlen Bier, wo es in den Wirtshäusern „Zum goldenen Löwen“ oder im „Drei Kronenhof“ beim Frühschoppen lustig zuging. Die Wirtsleute konnten sich wahrlich nicht über ausbleibende Gäste beklagen, denn ihre Stammtische und Gaststuben waren sonntags immer gefüllt.

Kirchenmaler Heinrich Brey (1872-1960)

Mein Bruder freute sich auf den langen Sonntag ohne Schulbücher und Unterricht. Zwar war es uns nur erlaubt, in Hof und Garten zu spielen, wo doch ferne die Wiesen und Felder lachten, und es in der Morgensonne blitzte und flimmerte. Wie ein grünes Meer wogten die jungen Roggenfelder und lockten uns mit rotem Mohn und Rittersporn darin. Dort lag unsere weite Welt und sie gehörte uns, soweit es unser Blick erlaubte, mit allen Bäumen, Sträuchern und Vögeln, mit Wiesen und Feldern voller Windesrauschen und Blütenduft.

Wenn Mutter nach Hause kam, begann sie fettdurchwachsenes Schweinefleisch zu kochen und ihre besten Klöße zu machen, und abends gab es Eierkuchen. Das Dorf roch nach Braten und Apfelkompott. Dann war wirklich Sonntag! Ein holder Tag, an dem der Arme durch den Besitz eines zweiten Hemdes oder eines besseren Kleides an Selbstwertgefühl gewann und ihn ein Gefühl von Freiheit von den Mühen des Lebens zuversichtlich, heiter und lebenslustig machte.

Volksempfänger für Gottmenschen

Gekürzter Auszug aus meinem biografischen Roman über Henriette Brey (1875-1953)
Quelle: Wikipedia – Volksempfänger, Typ VE 301 W (1933)

Als Josef den Volksempfänger anstellte, dröhnte uns die Stimme Hitlers entgegen. Durchdringend und markerschütternd, bahnten sich dessen Worte den Weg in die Gedanken der Bevölkerung und hafteten dort wie die klebrigen Tentakel eines Kraken.

Hinweis auf das Verbot, ausländische Sender abzuhören, der jedem Volksempfänger beim Kauf beigelegt war

Bereits im Oktober hatte die neue Regierung festgelegt, dass Hitler als Einziger mit der Bezeichnung „Führer“ zu betiteln sei. Die Kirchen versuchten sich natürlich diesem Gebot zu entziehen. Wie konnte ein anderer als Jesus Christus den Anspruch erheben, Führer unserer Christengemeinschaft zu sein?

Immer mehr Regimekritiker wurden ausgebürgert. Die Mitgliederzahl der NSDAP stieg und stieg. 1934 bekannten sich nahezu drei Millionen zu dieser Partei. Als absoluter Herrscher versuchte Hitler mit seinen Parteigenossen die Gesellschaft auf allen Ebenen organisatorisch wie ein giftiges Pilzgeflecht zu durchdringen. Das Volk wurde bespitzelt und indoktriniert. Ob in Freizeit oder Beruf, die Kontrolle des Staates wurde überall ausgeübt, und wer es wagte, den deutschen Gruß mit ausgestrecktem rechtem Arm zu verweigern, musste mit tief greifenden Repressalien rechnen. Jeder klammerte seine Hoffnungen an Hitlers Versprechungen, der die soziale Not infolge der Weltwirtschaftskrise, mittels nationalsozialistischer Revolution überwinden wollte.

Es wurden neue Gesetze geschaffen, um Arbeitsplätze zu gewinnen, und die deutschen Frauen an den heimischen Herd und zur Familie zurückzuführen. Ein so genanntes „Ehestandsdarlehen“ wurde eingeführt, um die Frauen nach der Heirat zu verpflichten, ihren Beruf aufzugeben. Als „Erhalterin des Volkes“ wurde die deutsche Frau in ihrer Mutterrolle bestärkt. Die Rüstungsindustrie und der vorangetriebene Autobahnbau schafften zusätzliche Arbeitsplätze.

Ende November 1934 kam eine neue NS-Organisation zum Zuge. Mit dem Slogan „Kraft durch Freude“ erhöhte man mit umfangreichen Freizeitaktivitäten die Arbeitsleistung der Volksgemeinschaft.

Das Ministerium für Reichspropaganda unter der Leitung Josef Goebbels wurde mit lautstarken Märschen der Sturmabteilung (SA) gekonnt in Szene gesetzt. Diese Veranstaltungen übten eine Faszination auf die Massen aus. Besonders junge Männer wurden durch Fackeln, Marschmusik, Uniformen, Fahnen und Symbole in den Bann des angeblichen „nationalen Heilsbringers“ und „Erlösers“ Hitler gezogen.

So lauschten wir gespannt den Parolen und neuesten Nachrichten. Genau wie damals vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Abscheu gegen alles Nichtdeutsche schon in den Schulen geschürt. Die hasserfüllten Töne hallten mit gewaltigem Echo fort und fort und wurden besonders gegen die Juden immer lauter und lauter.

An den Fahnenstangen einiger Häuserwände wehten unheilvoll die roten Fahnen der neuen Regierung. Die Hakenkreuze auf weißem Kreis hatten sich als Zeichen der Macht über das ganze Land verbreitet, und auch hier am Niederrhein streuten sie sich zunehmend über die Städte, wie eine braune Saat, die alle Nächstenliebe unter sich begrub.

Wie in allen deutschen Städten wurde auch hier der jüdisch-materialistische Geist „bekämpft“. Jüdische Geschäfte waren geschlossen worden, nachdem der Verkauf dort bereits im Jahre 1933 boykottiert worden war.

Vor meiner niederrheinischen Heimat hatte der neue Geist nicht Halt gemacht und versuchte mit seiner unheilvollen Energie übermächtig in die Herzen der Bevölkerung zu dringen. Wirtschaft, Kultur und Medien tanzten im Takt des Führers und dessen Minister und selbst der Vatikan hatte im Juni des Jahres 1933 mit dem nationalsozialistischen Staat ein Konkordat geschlossen.
Es wurde feierlich vor Gott und den Evangelien geschworen, das Deutsche Reich und die verfassungsmäßig gebildete Regierung zu achten. In der pflichtgemäßen Sorge um das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens wollte und sollte der Klerus jeden Schaden verhüten, der dies bedrohen könnte. Fortan hatte der kirchlichen Liturgie im Anschluss an den Gottesdienst ein Gebet für das Wohlergehen des Deutschen Reiches und Volkes zu folgen.

Indem Anhänger der christlichen Kirchen die neue Staatsform als den Gottesstaat und seinen Führer als den Heiland und neuen Messias feierten, trugen sie zu der Entwicklung eines Führermythos nicht unwesentlich bei. Hitler wurde dargestellt als deutscher Gottesmann, der in unbegreiflich großer Bruderliebe Gebete lebte und seinen Willen an Gottes wunderbare Allmacht heftete.

Alles Schwache wurde weggehämmert. Hitler begann die Jugend zu formen und die Alten zu schleifen. Das NS-Regime richtete eigene Kindergärten ein, wo natürlich auch ein Morgengebet gesprochen wurde: „Händchen halten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken!“, war beispielsweise eines davon. Fortan legte man Wert darauf, dass die militärische Ausbildung bereits bei den Kleinsten begann. Zweckdienliches Spielzeug waren Holzsäbel, Helme und Uniformen, woran vor allem die Jungen Freude hatten.

Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend wollte Hitler schaffen. Stark und schön sollte sie sein und vor allen Dingen athletisch. Die totale Erziehung sollte alle Kräfte des menschlichen Körpers und Geistes erwecken und zu hoher Leistung führen. Es sollte ein freier Mensch entstehen – ein Schöpfer, ein Gottmensch.

Feindbilder, Kaisertreue und Krieg

Gekürzter Auszug aus meinem biografischen Roman über Henriette Brey (1875-1953)

https://katalog.ub.tu-braunschweig.de/vufind/Search2Record/1609258002

„Wir Deutsche fürchten Gott, sonst niemand auf der Welt!“

Sozialprobleme wurden im Kaiserreich zunehmend mit Unruhen und Auflehnung bekämpft. Preußen formierte sich, und es gelang dem Militär, auch außerhalb der Exerzierplätze, noch stärker den Ton anzugeben. Die ohnehin schon hoch verehrte Armee erhielt durch staatliche Bevorzugung noch höhere Weihen, was besonders den Adel stärkte, weil die Mehrzahl der preußischen Offiziere „blaublütiger“ Herkunft war.

Man schloss sich in Kriegervereinen zusammen und bildete paramilitärische Jugendverbände. Fleiß, Ordnung, Gehorsam, Drill und preußischer Ehrenkodex stellten den elementaren Grundlehrstoff an den vaterländischen Schulen dar, aber auch das Wissen um Deutschlands vermeintliche Feinde, wurde ausgiebig gelehrt. Die feindliche Gesinnung gegenüber Demokratie, Liberalismus und Sozialismus wurden geschürt und der Judenhass, der bereits als dunkle Saat seit Jahrhunderten in deutschem Boden schlummerte, wurde in den Herzen der Kinder zum Leben erweckt.

Doch die Reichsfeindkampagnen richteten sich auch gegen die katholische Bevölkerung, Polen, Lothringer und Elsässer. Später sollten sich zu den öffentlich verbreiteten Feindbildern noch die Schwarzafrikaner, Sinti und Roma, Homosexuellen, Zeugen Jehovas, Intellektuellen, der „Erbfeind“ Frankreich und überhaupt alles, was „ausländisch“ war, hinzugesellen.

Die sozialen Probleme des Landes brachten schließlich den schwelenden Konflikt zwischen Kaiser Wilhelm II. und Bismarck zum flammenden Ausbruch. Beide hatten kein Interesse an einer Besserstellung der Arbeiter. Doch sollte ein propagandistisches Programm im Hinblick auf Frauen- und Kinderarbeit des Kaisers Ruhm anhaltend mehren.

Bismarcks Zeit war vorüber, als er keine parlamentarische Mehrheit mehr für seine Pläne fand. Schließlich reichte er sein Entlassungsgesuch ein. Mit ihm verschwand ein Garant des Gleichgewichts der politischen Kräfte von der politischen Bühne Europas. Da wo er eine devote Untertanenmentalität gefordert hatte, die für Kaisertreue, blinde Verherrlichung desselben, Preußentum und Demokratiefeindlichkeit stand, konnte weder die freie Rede noch ein frischer Geist von Toleranz gedeihen.

Kaiserkrönung 1871

https://www.wikiwand.com/de/1._Garde-Regiment_zu_Fu%C3%9F4

Nicht nur die Landbevölkerung zollte den damaligen autoritären Normen fast enthusiastisch Beifall. Sich fügen fiel ihnen leichter als Protest. Bismarcks Worte: „Haut doch die Polen, dass sie am Leben verzagen!“ oder ähnliche diskriminierende Äußerungen, hatten sich tief in den Volksgeist eingegraben.

Alle waren dazu bereit, durch Ausbreitung des deutschen Geistes auf der Erde, am Wirksamsten den Bau der Welt Gesittung zu fördern. Die deutsche Kultur bedeutete das Ideal menschlichen Denkens und jeder Schritt, der für das Deutschtum errungen wurde, gehörte der Menschheit und der Zukunft unseres Geschlechts.

Man redete mit einem Male über Führerrassen, und, dass das Hereinbrechen einer hochgesinnten Edelrasse nicht der Vernichtung, sondern der Höherentwicklung der Besiegten dienlich sei. Das Militär glich den Kreuzrittern, die angeblich dem Herrn der Heerscharen dienten und ihr Tun als Erlöserwerk ansahen.

Die Träume der „Alldeutschen“ wurden nun mit entsetzlicher Steigerung in den Weltmachtplänen Hitlers weitergesponnen.

Weltwirtschaftskrisen vor ca. 100 Jahren

Gekürzter Auszug aus meinem biografischen Roman über Henriette Brey (1875-1953)

1934

Heinrich sprach ein Tischgebet, so wie es früher Vater tat, und nachdem wir es mit einem „Amen“ beendet hatten, begann mein Bruder Josef zu erzählen: „Es ist bald so, wie vor zehn Jahren. Zu kaufen bekommt man fast überhaupt nichts mehr oder es ist so teuer, dass es niemand bezahlen kann. Das Geld ist nichts mehr wert und Arbeit gibt es auch kaum noch. Überall sagt man, mit Hitler würde bestimmt alles besser.“

Schon der Name bereitete mir Unbehagen. Diese Regierung hatte mir all meine Sicherheiten genommen. Bisher hatte ich meinen Lebensunterhalt durch meine schriftstellerischen Arbeiten bestreiten können. Ich fürchtete mich vor der Zukunft. Hitler ließ Bücher verbrennen, doch was kam als Nächstes?

Trotz alledem konnte ich meinen Bruder verstehen. Vor ein paar Jahren hatte er, wie alle anderen, noch stundenlang mit einer Brotkarte anstehen müssen, und wenn Maria es mal auf „Umwegen“ zu einem bisschen Gries oder Graupen und etwas Öl gebracht hatte, war die Freude groß und ein frisch ‚erbeutetes‘ Seifenstück war purer Luxus und kam direkt hinter dem Traum von Bohnenkaffee. Es war die Zeit, in der Tee noch selbst gesammelt wurde, um einen aufrührerischen Magen mit Brombeerblättertee zu beruhigen. Geraucht wurden Huflattichblätter und Buchenlaub, anstelle von Tabak. Wenn der Hunger allzu sehr drückte, band sich Josef einen Rucksack auf den Rücken und versuchte bei den umliegenden Bauern etwas Essbares einzuhamstern, was sich diese dann aber teuer bezahlen ließen.

Das war die bitterböse, schlimme Wirklichkeit, die alle erlebt hatten, und in der die schlanke Linie ganz von alleine kam. Das einzige Fett waren sechzig Gramm verwässerte Butter – die Ration für eine ganze Woche. Mutters Schweinebraten wurde zum unerreichbaren Ideal, dem man mit trüben Gedanken und ehrfürchtigem Schauer seufzend hinterher trauerte. Zigarren kosteten mit einem Mal Milliarden und man begann getrocknetes Kartoffelkraut in Tabak umzufunktionieren.

Wenn Maria mit viel Einfallsreichtum ein bisschen Zucker für den Kornkaffee auftreiben konnte, war Feiertag. Des Abends ging man früh ins Bett, um Brennholz zu sparen und konnte oft genug wegen des knurrenden Magens keinen Schlaf finden. War man endlich eingeschlafen, träumte man von einem herrlich gedeckten Kaffeetisch mit köstlichem Weizenbrot, goldgelber Butter, rosigem Schinken und Wurst, frisch aus dem Rauch. Ein Puderzucker überzogener Gugelhupf lockte zusammen mit echtem, duftenden Bohnenkaffee.

Schon wälzte man sich unruhig im Schlaf hin und her und erwachte mit einem leeren Gefühl in der Magengegend und mit vor Kälte zitternden Gliedern. Die Hosen schlotterten um die dürr gewordenen Beine. Vorbei der Traum von weißen, runden Würsten, dickem Schwartemagen, goldgelben Eidottern und Speck. Fort waren der prächtige Käselaib und das Paket mit wohlriechendem Tabak. Wie eine Fata Morgana zerrannen die geträumten Genüsse und zerplatzten in der Realität, wie bunte Seifenblasen.

Nun blickten wir stumm auf einen liebevoll gedeckten Tisch mit Schwarzbrot, Rosinenweißbrot und Rübenkraut. Maria hatte ein Stück Butter aufgetrieben und Heinrich war es gelungen, geräucherten Speck und ein wenig Kochwurst von einem benachbarten Bauern zu besorgen. Heute war Feiertag – extra für mich! Während meiner langen Krankenhauszeit hatte ich mich nicht um den alltäglichen Existenzkampf kümmern müssen, denn das Hospital, das von der Caritas geleitet wurde, erhielt genügend Lebensmittelrationen aus der umliegenden Landwirtschaft.

Anderen ging es nicht so gut. Die Zeitungen waren übervoll mit Firmenzusammenbrüchen und berichteten über die Massenarbeitslosigkeit. Sogar Banken wurden geschlossen. Die Welt stand wirtschaftlich am Abgrund. Bei sechs Millionen Arbeitslosen nahmen Kriminalität und Armut sprunghaft zu.

Die Bevölkerung hungerte, war verzweifelt und suchte nach Auswegen. Die schmalen Gesichter waren von Hoffnungslosigkeit gezeichnet. Ältere Menschen bekamen keine Arbeit mehr, und die jüngere Generation musste jede Arbeit annehmen, die sich ihr bot, um dem Hunger und der Obdachlosigkeit zu entgehen.

Oftmals war ein Freitod einziger Ausweg aus der existenziellen Not. Zum Überlebenskampf gehörten Heimarbeit, Hausieren und Tauschgeschäfte. In den Großstädten häuften sich die Unruhen und oft galt die Prostitution für viele Frauen, als letzter Ausweg um zu Überleben.

Hier auf dem Lande hatte jeder wenigstens ein kleines Stückchen Erde, das er bewirtschaften konnte. So schien das Überleben ein wenig leichter zu sein, weil man Gemüse und Kartoffeln selbst anbauen konnte. Obst war ebenfalls durch eigenen Anbau vorhanden, und Fleisch bekam Josef ab und zu durch Malerarbeiten von den Bauern im Umkreis. Doch auch hier wuchs die Armut, und die Tagelöhner, die vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, arbeiteten gewöhnlich zehn bis zwölf Stunden am Tag für einen Hungerlohn.

Zwischen den weiten Feldern des flachen Niederrheins hindurch, ziehen sich die alten römischen Heerstraßen, über die vor langer Zeit bereits die Legionen Cäsars stampften.

Manche der schnurgeraden Landstraßen sind jedoch erst unter Napoleons Herrschaft entstanden. Als darauf französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 in das Ruhrgebiet einmarschierten, leistete die Bevölkerung erbittert Widerstand gegen das teilweise brutale Vorgehen des Militärs. Unaufhaltsam setzten die fremden Mächte ihren Marsch mit schweren Schritten immer weiter auf deutscher Erde fort und besetzten den Niederrhein, um die Reparationsleistungen für den ersten Weltkrieg einzufordern. So wurde die deutsche Wirtschaft schließlich durch die Absperrung des Ruhrgebietes und wegen anhaltender Streiks und Produktionsausfälle ruiniert.

Die Bevölkerung zahlte ihren bitteren Zoll und musste die Gürtel noch enger schnallen. Nun hungerte auch die Landbevölkerung, denn sie hatte den Großteil ihrer erwirtschafteten Güter an die Besatzer abzugeben.

Wo man sich sonst mittags gegen vier Uhr mit allen Hausgenossen bei Tisch zusammenfand, um reichlich Kaffee mit Butterbrot zu sich zu nehmen, stand man vor leeren Vorratskammern. Es gab an Stelle von Brot nur Mehlsuppe und ab und zu schlecht schmeckenden Kaffee-Ersatz.

Als bitterer Nachgeschmack verblieb ein gesteigerter Franzosenhass in den Köpfen der Einheimischen, und eine allgemeine Fremdenfeindlichkeit brannte sich tief in die leidgeprüften Gemüter ein, die Hunger und Not nicht vergessen konnten. So folgte man willig den neuen Parolen, die bessere Zeiten und Arbeit versprachen, und die Mühlen des Hasses drehten sich schneller und schneller.