Gekürzter Auszug aus meinem autobiografischen Roman über Henriette Brey (1875-1953)
Hoch über den Baumwipfeln schaute der alte Kirchturm über die Gärten hinweg. Die von Linden umstandene Sankt-Georgs-Kirche, die nur wenige Schritte von unserem Haus entfernt lag, war unser tägliches Ziel. Nach Einsetzen des anfänglich leisen Glockengeläuts, welches dann bis zur Messe umso lauter und eindringlicher wurde, machten wir uns auf den Weg zum Gotteshaus, wenn Mutter Zeit hatte, bereits am Morgen in der Frühe. Nur manchmal begleitete uns Vater zur Abendandacht, denn nur selten kam er von seiner Arbeit rechtzeitig nach Hause. Aber am heiligen Sonntag, wenn die Glocken noch feierlicher als sonst klangen, gingen wir alle gemeinsam in feinstem Sonntagsstaat zur Messe.
Vater hatte seinen großen Schnurrbart extra gezwirbelt, sein weißer Hemdkragen blitzte unter dem dunklen Anzug hervor. Zu besonderen Anlässen trug er einen schwarzen Zylinderhut, der ansonsten eingeklappt in einer Hutschachtel auf dem Schrank lag. In der Frühe, wenn wir nach unserem Tischgebet gemeinsam gegessen hatten, holte Vater seine Pfeife hervor und polierte den Kupferbeschlag des Pfeifenkopfes aus Maserholz, bis er glänzte. Anschließend kramte er den dunklen Tabak aus seinem ledernen Tabaksbeutel hervor und begann die Pfeife für den Heimweg nach der Kirche aufs Sorgfältigste zu stopfen. Mutter trug ihr schwarzes Sonntagskleid, das am Hals mit Spitze eingefasst und mit einer Gemme verziert war, dazu eine kleine schwarze Spitzenhaube. Meist legte sie ihre Perlenkette an, ein Geschenk von Vater, welche sie sonst, neben weiteren Goldkettchen, in einem Kästchen im elterlichen Schlafzimmer aufbewahrte.
Wir Kinder wurden ebenso fein herausgeputzt. Jedes Mädchen trug über ihrem von Mutter selbstgenähten Sonntagskleidchen eine Schürze, die mit einem Rüschenbesatz an den Armen endete und auf dem Rücken zu einer großen Schleife gebunden wurde. Zöpfe wurden auf dem Kopf festgesteckt und mit Spangen und Bändchen verziert. Die Jungen waren brav gekämmt und liefen mit Pomade fixierten Scheiteln, gesittet und artig, in schwarzen Hosen und weißen Hemden direkt hinter Vater durchs Kirchenportal.
Das Kircheninnere blieb trotz der vielen Menschen kühl. Wir tauchten unsere Finger in das Weihwasserbecken und suchten, nachdem wir uns bekreuzigt und uns demütig mit einem angedeuteten Knicks vor dem Altar verbeugt hatten, eilig die noch leeren Plätze auf den alten Holzbänken auf. Dann begann der Organist, feierlich auf der Orgel zu spielen, und es folgte der sonntägliche Ablauf der heiligen Messe.
Der Priester führte fort: „Der allmächtige Gott erbarme sich euer. Er lasse euch die Sünden nach und führe euch zum ewigen Leben. Amen.“
Es folgte die immer gleichbleibende Liturgie. Als der Höhepunkt der heiligen Opferfeier nahte, wo Christus unsere irdischen Opfergaben in seinen eigenen Leib und sein eigenes Blut verwandelt und so sich selbst dem himmlischen Vater opfert, saß ich ganz still und blickte ehrfürchtig zu den Lichtstrahlen empor, die durch die bunten Kirchenfenster fielen.
Der Pfarrer hatte einmal zu mir gesagt: „Weißt du nicht, Kind, dass in dem Augenblick, wo das heilige Sakrament auf den Altar kommt, der Himmel droben sich öffnet und Christus herniedersteigt und ankommt, dass Engelheerscharen vom Himmel zur Erde schweben und den Altar umringen, wo das heilige Sakrament des Herrn ist und alle mit dem Heiligen Geiste erfüllt werden?“
So harrten wir aus, andächtig und erwartungsvoll, bis uns der Pfarrer den Segen erteilte und in den Tag entließ. Und manchmal glaubte ich Christus gesehen zu haben oder meinte, dass Maria von der Ecke des Altares gelächelt hätte, als ich sie ansah. Dann hing ich noch lange nach der Messe meinen Gedanken nach und grübelte den ganzen Nachmittag.
Gleich nach der Kirche steckte Vater seine Pfeife an und begann ein bedächtiges Gespräch mit Bekannten. Man redete über das neue Pumpenhaus, die geplante Raiffeisengenossenschaft oder über Politik. Alle sahen in ihrem Sonntagsstaat so anders aus als sonst, mit ihren geschwärzten Stiefeln, gesteiften Hemden und rotbackigen Sonntagsgesichtern. Ich kannte sie alle, die treuherzigen, von der Arbeit gezeichneten Gesichter der Männer und Frauen, auf die der stille Sonntagsfriede seinen sänftigenden Widerschein warf. Die sittsamen jungen Mädchen, mit ihren messingbeschlagenen Gesangbüchern, gingen vorbei an den jungen Burschen, deren Gedanken wohl schon von der Predigt hinüberschweiften zum kühlen Bier, wo es in den Wirtshäusern „Zum goldenen Löwen“ oder im „Drei Kronenhof“ beim Frühschoppen lustig zuging. Die Wirtsleute konnten sich wahrlich nicht über ausbleibende Gäste beklagen, denn ihre Stammtische und Gaststuben waren sonntags immer gefüllt.
Mein Bruder freute sich auf den langen Sonntag ohne Schulbücher und Unterricht. Zwar war es uns nur erlaubt, in Hof und Garten zu spielen, wo doch ferne die Wiesen und Felder lachten, und es in der Morgensonne blitzte und flimmerte. Wie ein grünes Meer wogten die jungen Roggenfelder und lockten uns mit rotem Mohn und Rittersporn darin. Dort lag unsere weite Welt und sie gehörte uns, soweit es unser Blick erlaubte, mit allen Bäumen, Sträuchern und Vögeln, mit Wiesen und Feldern voller Windesrauschen und Blütenduft.
Wenn Mutter nach Hause kam, begann sie fettdurchwachsenes Schweinefleisch zu kochen und ihre besten Klöße zu machen, und abends gab es Eierkuchen. Das Dorf roch nach Braten und Apfelkompott. Dann war wirklich Sonntag! Ein holder Tag, an dem der Arme durch den Besitz eines zweiten Hemdes oder eines besseren Kleides an Selbstwertgefühl gewann und ihn ein Gefühl von Freiheit von den Mühen des Lebens zuversichtlich, heiter und lebenslustig machte.