Der Mai

von Erich Kästner
Im Garten – Peder Monk Monsted (1859-1941)
Im Galarock des heiteren Verschwenders,
ein Blumenzepter in der schmalen Hand,
fährt nun der Mai, der Mozart des Kalenders,
aus seiner Kutsche grüßend, über Land.

Es überblüht sich, er braucht nur zu winken.
Er winkt! Und rollt durch einen Farbenhain.
Blaumeisen flattern ihm voraus und Finken.
Und Pfauenaugen flügeln hinterdrein.

Die Apfelbäume hinterm Zaun erröten.
Die Birken machen einen grünen Knicks.
Die Drosseln spielen, auf ganz kleinen Flöten,
das Scherzo aus der Symphonie des Glücks.

Die Kutsche rollt durch atmende Pastelle.
Wir ziehn den Hut. Die Kutsche rollt vorbei.
Die Zeit versinkt in einer Fliederwelle.
O, gäb es doch ein Jahr aus lauter Mai!

Melancholie und Freude sind wohl Schwestern.
Und aus den Zweigen fällt verblühter Schnee.
Mit jedem Pulsschlag wird aus Heute Gestern.
Auch Glück kann weh tun. Auch der Mai tut weh.

Er nickt uns zu und ruft: „Ich komm ja wieder!“
Aus Himmelblau wird langsam Abendgold.
Er grüßt die Hügel, und er winkt dem Flieder.
Er lächelt. Lächelt. Und die Kutsche rollt.
Erich Kästner (1899-1974)

Autor: Gisela

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9 Gedanken zu „Der Mai“

    1. Liebe Elisa, Erich Kästner hat es verstanden, Bilder des Jahres in seinen Gedichten kunstvoll aufzubereiten. Ich mag seinen hintergründigen Humor, ähnlich wie Ephraim Kishon, den ich sehr gerne gelesen habe.
      Liebe Grüße und danke für Deinen Kommentar. 💛👋

    1. Liebe Marie, es ist mir immer ein Vergnügen, Gedichte von Erich Kästner zu veröffentlichen. Er darf nicht vergessen werden!
      Alles Liebe und ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen, Gisela

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