Fortsetzung Teil 3
Ja, Opa hatte es nicht leicht! Trotzdem sah man ihn niemals schlecht gelaunt. Er war immer freundlich, geduldig und hatte ein sonniges Gemüt. Als ich heranwuchs, genoss ich in seiner Obhut einen besonderen Schutz. Ich hielt mich gerne in seiner Nähe auf, weil er ganz das Gegenteil des autoritären Vaters war.
Mit dem Opa konnte ich spielen und lachen, ohne Ermahnungen und Schläge fürchten zu müssen. Von ihm ließ ich mich beschützen und tragen und die Natur erklären. Sobald er von der Arbeit nach Hause kam, lief ich zu ihm, um nach dem Essen mit ihm in den Garten zu gehen. Er zeigte mir, wie man Kartoffeln setzt und Bäume veredelt, Strauch- und Heckenschnitt, Saat und Ernte. Mit ihm zusammen ging ich auf Entdeckungsreise. Opa offenbarte mir, dass das „Männlein im Walde“ durchaus auch in der Hecke stehen konnte. Von den Hagebutten wurde Tee gekocht, man sammelte gemeinsam Kamille und Minze, Salbei und Bohnenkraut.
Ich schaute zu, wenn er die großen Stangen für die Bohnen richtete und später, wie sich die Ranken ihren Weg bis an die Spitze bahnten. Es wurden Erbsen „gedöppt“, Sauerkirschen, „Wimmelchen“ (Johannisbeeren), Stachel- und Erdbeeren gepflückt, Rhabarberblatthüte getragen und die Stangen in Zucker getaucht gegessen. Bereits als Vierjährige stand ich mit einem Körbchen auf dem Acker, um die von Opa gegrabenen Erdlöcher mit Pflanzkartoffeln zu belegen oder schaute in der alten Laube, inmitten herrlich duftender, roter Rosen, auf dem Boden oder unter Steinen nach Kellerasseln und Silberfischen.
Wenn ich die rot lackierte Holztüre des Hinterausgangs durchschritt, kam ich in „meine Welt“. Bei gutem Wetter tollte ich beim Ballspielen auf dem Hof herum oder schaukelte stundenlang dem Himmel entgegen. Dabei sah ich meinem Schatten zu, wie er sich bei jeder Auf- und Ab Bewegung an der Wand des Nachbarhauses hob und senkte. Hinter dem Haus stand eine alte Bank, wo wir abends, nach getaner Arbeit, oft beisammen saßen. An lauen Sommerabenden konnte ich dort die Mückenschwärme tanzen sehen, oder ich lauschte dem Zirpen der Grillen.
Im Garten gab es viel Schönes zu entdecken. Wenn das Gepflanzte heranwuchs und mit ersten zartgrünen Blättchen die dunklen Erdschollen durchbrach, wurde das von mir mit dem größten Interesse beobachtet. Ebenso erregte jedes Getier meine Aufmerksamkeit. Ob es nun Spinnen, Käfer, Heuschrecken, Raupen oder Schmetterlinge waren: Jedes Krabbeltier wurde genauestens beschaut und bestaunt, in Behälter gesammelt und hinterher wieder freigelassen. Besonders Katzen machten mir damals schon große Freude. Sie wurden angelockt und gestreichelt, sobald sie unseren Garten oder den Hof durchquerten.
Jeden Herbst verbrannte Opa Strauchwerk und Kartoffelkraut auf den abgeernteten Äckern, und wir aßen in der Glut gegarte Kartoffeln, die herrlich schmeckten.
Die geernteten Kartoffeln wurden im Hof ausgebreitet, damit sie trocknen konnten, bevor sie eingekellert wurden. Von den winzig kleinen machte Oma die leckersten Bratkartoffeln, und da mir ihr Essen viel besser schmeckte als das meiner Mutter, schlug ich mir fast täglich den Bauch damit voll.
Bei Oma kamen köstliche Dinge auf den Tisch. Ihr eingepökeltes Fleisch war so zart, wie ich es nie wieder gegessen habe und ihre Pfannkuchen, die sie oft für uns Kinder zubereitete, waren, neben ihren selbst gemachten grünen Klößen mit Mehlschwitze und „Spirkel“ (dicke Rippchen) „ein Gedicht“.
Zu Beginn des Frühjahrs musste Opa die Grube unter dem hölzernen Klosett und die Mistkuhle im Garten entleeren, die mit Küchenabfällen gefüllt war. Dann wurde der Inhalt mit einem Eimer, der an einer langen, hölzernen Stange befestigt war, als Dünger in die Kartoffelacker im Garten eingebracht. In dieser Zeit lag über Hof und Garten ein bestialischer Gestank. Wege und Beete waren mit gelblich-braunen Flecken überzogen, hier und da konnte man sogar noch einige Zeitungsfetzen ausmachen, und man mied nach Möglichkeit für eine Weile diesen Ort.
Wo es während des Krieges und danach nur diese Toilette gegeben hatte, die ihre Funktion noch lange Jahre beibehielt, baute mein Vater Anfang der 50er Jahre ein Badezimmer in die Küche der Schwiegereltern ein. Dazu wurden neue Leitungen gelegt und Wände gesetzt, jedoch ohne Genehmigung der Baubehörden. Da eine Toilette mitten in der Küche weder den Hygiene- noch den Bauvorschriften entsprach, musste das Machwerk, nach behördlicher Anordnung, ein Jahrzehnt später wieder abgerissen werden.
Oma beobachtete missmutig die Aktivitäten ihres Schwiegersohnes, der seit seinem Einzug damit begonnen hatte, gewisse Dinge in Haus und Hof zu modernisieren und Überflüssiges zu entfernen.
Der riesige Birnbaum mitten im Hof hatte den letzten Krieg überstanden und war auch durch einen direkten Bombeneinschlag im Anbau des Hauses nicht zerstört worden. Aber er musste weg, denn er versperrte nicht nur die Sicht, sondern saß im Sommer voller Insekten. Im Herbst lag das Fallobst faul im Hof herum, wo es Schwärme von Wespen anzog. Zu gefährlich für mich, weil sich unter dem Baum meine Schaukel und ein Sandkasten befand.
Einzige Gegnerin dieser Pläne war natürlich Oma, denn sie musste sich für immer von ihren in Essig-Zuckerwasser mit Gewürznelken eingemachten Birnen verabschieden, die neben selbstgemachtem Apfelmus, im Sommer geernteten Sauerkirschen und anderen eingekochten Köstlichkeiten das ganze Jahr über in den Kellerregalen standen.
Nachdem die Pläne jahrelang aufgrund des schwiegermütterlichen Widerstandes zurückgestellt worden waren, hatte ich bereits das fünfte Lebensjahr erreicht, als mein Vater sich endlich durchsetzte. Oma murrte, ließ ihn jedoch diesmal gewähren. Ganz allein fällte er zu Beginn des Frühjahres den alten, riesigen Baum und verarbeitete ihn nach und nach zu Brennholz.
Oma hatte schon auf vieles verzichten müssen, das ihr wert und teuer gewesen war, wie zum Beispiel auf ihre Hühner und Enten. Anstelle eines Hundes hatte viele Jahre lang ein Ganter darauf aufgepasst, dass kein Fremder den Hof betrat. Ein „stinkender Köter“, wie sie sagte, kam ihr nicht ins Haus, denn sie mochte Hunde überhaupt nicht.
Einen besonderen Widerwillen hatte sie gegen Ferdinands Schäferhund, der während der Besuche immer unter dem Tisch lag und nur darauf wartete, dass sich jemand bewegte. Dann begann er sofort das Knurren und Zähnefletschen und konnte nur mit Mühe von Ferdi beruhigt werden. Ich fürchtete mich sehr vor dem langhaarigen, bissigen Gesellen, was zur Folge hatte, dass ich den Hunden aus dem Weg ging, wo immer ich es konnte.
Als der Gänserich das Zeitliche gesegnet hatte, musste Anfang der 50er Jahre durch Initiative meines Vaters auch der Hühnerstall und der Ententeich weichen. Das war das Aus für die täglich frischen Eier, und es nahm meiner Oma schließlich auch ein kleines Stück Heimat, die in ihr durch die Erinnerungen an den elterlichen Bauernhof in Ostpreußen lebendig blieb.
Was zunehmend wie eine gesteigerte Zerstörungswut aussah und von Oma auch so gedeutet wurde, sollte am Hausprojekt in eine lebenslange, ehrgeizige Sanierungs- und Erhaltungsarbeit übergehen. Dafür investierte mein Vater nicht nur alles Geld, sondern auch alle seine Kräfte.
Auch Opa hatte zuvor schon Pionierarbeit am Bau geleistet und neue Stromkabel und Wasserrohre verlegt. Wenn man nun im Wohnraum den Lichtschalter betätigte, gingen die Lampen im Schlafzimmer an, was natürlich so nicht gewollt war.
Durch die Detonation einer Bombe im Nachbarhaus gegen Ende des Zweiten Weltkrieges war ein Teil der Zimmerdecke des Wohnraumes eingestürzt. Opa hatte sie nur notdürftig flicken können, weil ihm zum damaligen Zeitpunkt die dafür erforderlichen Baustoffe fehlten. Das hatte zur Folge gehabt, dass sich Anfang der 50er Jahre über dem Sofa erneut ein riesiger Deckenriss gebildet hatte, was wenige Zeit später einen weiteren Einsturz nach sich zog. Da es mittlerweile wieder alle Materialien zu kaufen gab, wurde 1957 die gesamte Decke neu eingezogen.
Wird fortgesetzt…