Fortsetzung Teil 6
Ich war sechs Jahre alt, als meine Großeltern mitsamt ihren Habseligkeiten in das Obergeschoss des Hauses zogen, was zur Folge hatte, dass das Untergeschoss einer deutlichen Verjüngungskur unterworfen wurde. Alte Eingänge und Fenster wurden zugemauert, neue eingebaut und ein Elternschlafzimmer in Rattas ehemaligem Wohnraum eingerichtet. Aber das war erst der Anfang einer nicht enden wollenden Sanierung.
Mein Bruder schlief im ersten Jahr noch bei den Eltern. Ich bekam mein eigenes Zimmer im Anbau. Dafür musste nicht nur das Plumpsklo, sondern auch die alte Waschküche weichen.
Dort, wo sich meine Mutter und Oma bisher einmal wöchentlich die Finger am Waschbrett wund gerieben hatten, stand die Welle im großen Waschbottich still. Fortan schwebten keine Wasserdampfschwaden mehr über dem Hof, keine Seifenlaugengerüche drangen mehr bis auf die Straße. Die schwerste Arbeit der Nachkriegsjahre nahm ein Ende. Eine neumodische Waschmaschine von Miele wurde stattdessen angeschafft. Sie bekam einen Stellplatz in der neu eingebauten Toilette der oberen Etage und tat dort die folgenden zwanzig Jahre ihren Dienst.
Trotzdem wurden an den Waschtagen die im Garten gespannten Wäscheleinen nicht leer. Windelberge mussten gewaschen, zum Trocknen gespannt und gebügelt werden. Tagelang war Mutter damit beschäftigt, die stocksteife Wäsche glatt zu bügeln und zusammen zu legen.
An Regentagen wurde das Trocknen in die Wohnräume verlegt und eine Wäscheleine quer durchs Wohnzimmer gespannt.
Freitags war Waschtag und am Samstag Badetag, wo die ganze Familie nacheinander in die Wanne stieg. Anfangs wurde das Badewasser in großen Zubern auf dem Herd erhitzt; später gab es den ersten Gasboiler und eine Heizsonne, die über der Türe hing.
Nachmittags wurde meist Kuchen für den Sonntag gebacken. In der dunklen Jahreszeit backte Oma oft gedeckten Apfelkuchen mit Cox-Orange-Äpfeln aus dem Garten, die den ganzen Winter über, im kühlen Keller, in großen Holzkisten eingelagert wurden. Opa hatte alle Obstbäume selbst veredelt. Die wurmstichigen Äpfel wurden aussortiert und Apfelmus daraus gekocht.
Mein Vater backte die besten Torten. Sein „Frankfurter Kranz“ mit selbst gemachtem Krokant und Buttercreme war der absolute Glanzpunkt, der allerdings nur selten auf dem Tisch stand. Beim Kochen machte ihm keiner etwas vor. Selbst meine Mutter konnte ihn darin nicht übertrumpfen. Am Wochenende war er allein Küchenchef. Mutter hatte zu putzen, Staub zu wischen und zu saugen, was er hinterher genauestens inspizierte, indem er mit dem Finger über die Schränke strich. Die Fransen des neuen Perserteppichs bürstete er selbst. Wehe dem, der sie danach wieder durcheinander brachte! Das Spielen im Wohnzimmer war uns untersagt.
In meinem Zimmer standen später weiß lackierte Möbel. Der Raum war ungeheizt. Zwei Heizkörper gab es unten in der Wohnung, ein Kohleofen in der Küche und einer im Wohnzimmer. Im Winter konnte gegen die Kälte der Nacht nur ein dickes Daunen Oberbett Wärme bringen.
Jeden Abend hatte ich Angst davor, einzuschlafen! Auch das Gebet, das ich immer vor dem Einschlafen sprach, schützte mich nicht. Vor meiner Einschulung hatte das Bettnässen begonnen. Damals, als mein Bruder zur Welt kam, war mir das Leben plötzlich zur Qual geworden. Meine Eltern behandelten mich lieblos und ohne jede Zärtlichkeit. Es gab nichts mehr, worüber ich mich mit ihnen hätte freuen können.
Ich fürchtete den neuen Morgen. Noch heute erinnere ich mich, wie schwer das riesige Daunenbett beim Erwachen auf meinem Körper lag. Jeder Atemzug war mir beinahe unangenehm gewesen, und ich lag wie erstarrt. Schon wieder war es mir passiert. Keinen einzigen Millimeter bewegte ich mich in meinem Bett. Der Rücken schmerzte bereits, und insgeheim wusste ich, dass ich keine andere Wahl hatte: Ich musste aufstehen, um mich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Minutenlang versuchte ich es hinauszuzögern.
Ich erinnere mich an die Winterzeit, wenn das Dunkel der Nacht noch nicht gewichen war. Kein Geräusch drang von Haus und Hof zu mir ins Zimmer. Draußen hatte der Winter mit seinem harten Griffel Eisblumen an die Scheiben gemalt. Das war eine Zeit, in der der Winter noch klirrend kalt war. Unmengen von Schnee fielen vom Himmel, worauf man herrlich Schlitten fahren konnte. Wir Kinder bauten auf der noch fast autofreien Straße riesige Schneemänner und lange Schlitterbahnen.
Die Räume waren des Nachts derart ausgekühlt, dass ich meinen Atem sehen konnte. Die Luft floss kalt und schwer in meine Lungen, wenn ich im Bett lag.
Immer noch abwartend, so, als würde ich auf ein Wunder hoffen, lag ich bewegungslos in den Federn. Völlig durchnässt klebte das Kopfkissen an meinem Rücken, und bei der kleinsten Bewegung wurde es unangenehm kalt. Das über einer Gummidecke, dem Laken und der Matratze gespannte Moltontuch war ebenfalls nass. Meine Mutter hatte es, neben sechs anderen, eigens für mich genäht. Die Matratze sollte geschützt sein.
Ich hatte keinen Schutz, wenn morgens das eingenässte Bett entdeckt wurde. Dann fielen barsche Worte, die schlimmer waren als Prügel. Manchmal schlug Mutter mich mit dem hölzernen Kochlöffel. Einmal hatte ich versucht, vor ihr davon zu laufen, immer um den Tisch herum, und sie hatte gelacht. Ich dachte, sie würde nicht schlagen, doch dann packte sie mich und schlug mich so sehr, dass der Löffel zerbrach.
Wenn es im Bett so nass war, überlegte ich angestrengt, wie ich das Aufstehen am Schnellsten hinter mich bringen konnte. Dann fasste ich mir irgendwann ein Herz, warf die schwere Zudecke zurück und hastete mit einem großen Satz hinaus. Das nasse Hemd klebte mir dann eiskalt am Rücken. Schnell zog ich es mitsamt dem Schlüpfer aus, machte Licht und öffnete so leise wie möglich den Kleiderschrank. Nachdem ich mich mit einem frischen Nachthemd und sauberen Höschen bekleidet hatte, konnte ich durchatmen. Doch ich fror entsetzlich.
Ich zog die Einschläge des Tuches unter der Matratze hervor, legte das eingenässte Nachthemd, das Höschen und den Kopfkissenbezug darauf, wickelte alles ein und schleuderte die inhaltsschwere, feuchte Rolle bis in den hintersten Winkel unter das Bett. Vor den Blicken der Mutter sollte es unsichtbar sein, und obwohl ich genau wusste, dass Mutter mit zornigen Augen zuerst unter das Bett sehen würde, wie sie es jeden Morgen tat, geschah das Verbergen der nassen Beweise dennoch aus panischer Angst und aus Scham, was die Mutter nur noch zorniger machte.
Das Inlett des Federbettes hatte abgefärbt, denn der weiße Bettbezug zeigte stellenweise rote Flecken. Ich platzierte das Kopfkissen zum Trocknen auf den Stuhl, der unter dem Fenster stand; das dicke Federbett drehte ich um, sodass die nasse Seite nach oben zu liegen kam.
Ich war in Panik, doch mehr konnte ich nicht tun. Am liebsten hätte ich alles fortgezaubert und mich selbst natürlich auch. Barfüßig stand ich mit klappernden Zähnen auf dem kalten Linoleumboden und zitterte wie Espenlaub. Ich fühlte mich ohnmächtig und ohne Schuld, denn ich hatte keinen Einfluss auf das, was während des Schlafes geschah, und es geschah immer wieder und wieder.
In meinem Nachthemd aus Flanell schlüpfte ich frierend zurück ins Bett, zog das schwere Inlett über den Kopf und bangte – wie so oft – dem Morgen entgegen.
Wegen des Bettnässens wurde ich zu einem Urologen gebracht, der mir mit einem Katheder Urin abnahm. Für ein fünfjähriges Mädchen eine Tortur! Der Arzt wollte in seiner Praxis eine Blasenspiegelung durchführen, doch ich wehrte mich so sehr, dass er die Spritze nicht setzen konnte. Ein Krankenhausaufenthalt, der anfangs geplant war, blieb mir zum Glück erspart, weil ich nur noch weinte…tage- und wochenlang. Meine Eltern hörten irgendwann auf, nach dem Grund meiner Unart zu suchen, mussten sich aber letztendlich damit abfinden, dass meine unkontrollierbaren nächtlichen Entleerungen bis ins fünfzehnte Lebensjahr anhalten sollten.
Meine Mutter versorgte mich mit Nahrung und Kleidung, doch nie mit Güte und Liebe. Wenn sie mir morgens zum Frühstück den Kakao hinstellte und mir Brote machte, war das wie eine besondere Zuwendung für mich. Nie stellte sie sich schützend vor mich, wenn mein Vater mich schlug. Auf ihren mütterlichen Beistand hatte ich ein ganzes Leben lang vergeblich gehofft. Sie war keine Freundin, der ich mich hätte anvertrauen können.
Meine Kindheit war, bis auf den Jähzorn meines Vaters, dem ich stets schutzlos ausgeliefert war, erträglich. Eine seiner bevorzugten Strafen war es, mich in den dunklen Keller zu sperren. Dort ließ er mich dann hinter abgeschlossener Türe weinen und schluchzen.
Während meiner Schulzeit spielte ich meist mit den Kindern auf der noch unasphaltierten Straße vor unserem Haus. In der Nachbarschaft gab es viele Kinder. Ich durfte immer nur eins davon mit nach Hause bringen, weil es meine Eltern gestört hätte.
Wir spielten mit Tonknickern, Murmeln und Pitchdobbeln – das waren kleine, bunte Holzkreisel, die mit einer Peitsche geschlagen wurden. Später, als die Straße asphaltiert worden war, fuhren wir mit Rollschuhen oder sprangen Seil. Oft saß ich mit Mädchen aus der Nachbarschaft auf den Treppenstufen vor unserem Haus und trank Leitungswasser mit echtem Lakritz, das mir Mutter in eine Flasche abgefüllt hatte. Dort tauschten wir untereinander Zigarettenbildchen, Glanzbilder und später Autogrammkarten aus.
Manchmal ermahnte Mutter mich: „Sitz’ nicht auf dem Dörpel, sonst holst du dir ‚nen Pips!“, weil meine Blase sehr oft entzündet war. Dann musste ich bittere Wacholderbeeren kauen und ekelhaften Tee trinken.
Mitte der 50er Jahre fuhren noch Händler mit Pferd und Wagen durch die Straßen. Sie brachten die Eierkohlen, die vor das Haus gekippt wurden, welche Vater und Opa dann gemeinsam in den Keller schippten. Auch Kartoffeln, Eier und Milch wurden gebracht. Ich weiß noch, wie der Händler rief: „Kartoffeln…Kartoffeln…fünf Pfund eine Mark!“
Für Eltern und Oma lief ich manchmal zum Bäcker, vorbei an der kleinen Trinkhalle, wo ich mir zur Belohnung einen Mohrenkopf kaufen durfte, oder eine Kugel Kaugummi für einen Groschen.
Meine Schulzeit verlief weitestgehend normal. Ich brachte ganz gute Noten nach Hause, womit meine Eltern jedoch keinesfalls zufrieden waren. Ständig bekam ich vorgehalten, dass meine Mutter die Schulbeste gewesen sei, mit einem einzigen „befriedigend“ in Musik auf dem Zeugnis. Ihre anderen Fächer glänzten mit „sehr gut“.
Bereits mit neun Jahren ging ich regelmäßig allein in den Kindergottesdienst. Als ich zehn Jahre alt war, durfte ich sonntags für eine Mark ins Kino gehen. Dort wurden neben „Dick und Doof“ auch Märchenfilme gezeigt, was der Auslöser dafür war, dass ich begann, unzählige Bücher aus der Leihbücherei zu lesen. Ich las in jeder freien Minute, wobei mir Märchen besonders gefielen.
Bis auf die Kinderstunde blieb mir das Fernsehen verboten. Jeden Tag um 17 Uhr durfte ich mir das Programm anschauen. Da ich die Kirchturmuhr vom Garten aus sehen konnte, verpasste ich keine dieser Sendungen. Abends um 20 Uhr, wenn die Nachrichten begannen, hatte ich in meinem Zimmer zu sein, wo spätestens um 21 Uhr geschlafen wurde.
Mit elf Jahren bekam ich eine Blinddarmentzündung und kam ins Krankenhaus, was mich in helle Panik versetzte. Ich weinte und weinte und gab erst wieder Ruhe, als der Narkosearzt mir das Häubchen mit Äther aufsetzte. Die Operation verlief ohne Komplikationen, und ich durfte nach zwei Wochen nach Hause zurückkehren.
Meine Großeltern gingen regelmäßig mit mir spazieren. Sie waren es gewohnt, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen. Ich hingegen hasste es, so weit zu laufen, was sich bis heute nicht geändert hat. Meist liefen wir in die Innenstadt. Dort gab es in einem Zoogeschäft lebendige Tiere zu bestaunen. Das war ein kleiner Trost für die ungeliebte Anstrengung für mich.
Einmal im Jahr gab es eine Kirmes auf dem Marktplatz. Ich mochte den Lärm zwar nicht, fuhr aber gerne auf dem Ketten-Karussell. Oma kaufte mir dort ein Äffchen aus Kaninchenfell, das wie eine Marionette an einem Hölzchen und an Fäden hing. Dieses „Tierchen“ war mein Liebstes. Es wurde überall mit hingeschleppt, gestreichelt und gekuschelt, bis es bald auseinander fiel.
Einmal wurde es meiner Mutter zu bunt. Der Affe war schmutzig, das Fell arg lädiert. Sie sprach mit mir und bot mir an, ein anderes Tier zu kaufen, wenn ich den Affen hergeben würde. Schweren Herzens willigte ich ein und bekam stattdessen einen kleinen, auf dem Bauch liegenden Bären von Steiff.
Als ich meinen geliebten Affen in den Flammen des Herdes verschwinden sah, ist mir fast das Herz gebrochen. Ich habe geschrien und geweint und war in heller Panik, doch mein Liebling war unwiederbringlich fort.
Mit dem Bären habe ich mich nie anfreunden können und noch heute finde ich „Teddys“ schrecklich, fast genauso, wie die Puppen, die man mir schenkte. Eine davon hieß Lilli. Es war eine Schildkrötpuppe mit Augen, die sich öffnen und schließen konnten. Obwohl meine Mutter viele Kleidchen dafür strickte und nähte, konnte ich keinen Gefallen daran finden.
Wird fortgesetzt…