Gesichtslos

Irrlicht am Fuße des Monte Civetta in den Dolomiten – Teodoro Wolf-Ferrari (1878-1945)
Nur der Wind fuhr durch die Bäume,
deren Höhe Wolken streiften
und des Rasens Dach durchnässten,
Nebel, die darüber schweiften.

Tanzend, wie das Laub sich drehte,
kreiste in der Strömung Lüfte;
tiefe Äste alter Tannen
strichen schwankend über Klüfte.

Zwischen Farn und toten Zweigen
bäumte Geist sich und Gestalt,
trieb gesichtslos in den Räumen
zwischen Feldern und Asphalt.

Marmorbleich war sie erschienen,
wie aus einer Friedhofsgruft.
War sie aus dem Grab gestiegen,
losgelöst in grauer Luft?

Auf ihr Kleid von weißem Linnen
fielen kalt die Regentropfen;
regungslos, ihr starrer Blick,
hört nicht mal den Rhythmus klopfen.

Legt sich, vor der Welt versunken,
selig, mit gekreuzten Händen,
in den See - der wunderhelle,
wo ihr Schlaf wird niemals enden.

Manchmal nur, wenn letzte Rosen
an des Herbstes Brust verblühn,
schwebt sie selig durch die Auen,
bis sich kehrt in weiß das Grün.

Kühler Zeitgeist

Quelle: Pinterest
Unter herbstlich dunklen Wolken
ziehen Vögel Richtung Süden,
stoßen niemals aneinander,
trotz der Nähe ihrer Flügel.

Wirbeln fort in grauen Lüften
und der Mensch wird vogelfreier;
wenn der Wind das Laub verstürmte,
blieb ihm jedes Blättchen teuer.

In so manchem ‚Friedensreich‘
wird der Schierlingsbecher wandern.
Friedlos ist der Mensch geblieben,
eigennützig ist sein Handeln.

Seht doch, wie die Vögel ziehen!
Rauschen durch die Wolkenbälle,
ziehen hin zu warmen Zielen,
fliehen vor der Kältewelle.

Ahnen nicht die bitteren Zeiten,
hören nicht den Zeitgeist klagen;
trotz der herbstlich kühlen Schauer
wird man sie gen Himmel tragen.

Fort sind sie und Nebelschwere
wob in Dämmerung graue Fäden,
und die Großen dieser Erde
wechselten geheime Reden.

Einen Heiland braucht das Leben,
der die Welt und Seelen heilt,
der schon einmal dagewesen,
der von Herz zu Herzen eilt.

Kalte Zeit, von Furcht durchsetzt,
gibst du Antwort auf die Fragen?
Der uns Flügel wachsen lässt,
wird uns einst gen Himmel tragen.

Sankt Martin

Sankt Martins Zug in Düsseldorf – Heinrich Hermanns (1862-1942)
„Sonne, Mond und Sterne“, sangen
alle groß und kleinen Kinder,
und von Haus zu Haus gegangen,
sind die frohen Botschaftskünder.

Von Sankt Martin wurd‘ gesungen,
als er sah des Armen Leid,
der, dem Tode nah, gerungen -
gnädig teilte er sein Kleid.

Hoch zu Ross kam er geritten -
die Barmherzigkeit war groß,
sah den Armen, der gelitten,
dürr, in Lumpen, heimatlos.

Er gab hin den warmen Mantel -
wärmte nicht den Mann allein,
denn er ließ sein Bild des Handelns,
Teil der Nächstenliebe sein.

„Kleiner König“, ist dein Bitten
und dein Singen obsolet?
Ziehn vorbei, des Horrors Sitten -
Allerseelenzeit vergeht!

Mondbeglänzt

Bild von Pexels auf Pixabay
Herbststurm wirbelt – Welt wird kühler,
greift das Land mit tausend Händen,
so, als ob’s ein Spielzeug sei,
wirft’s dann fort und zieht vorbei
an den starren Häuserwänden.

Vollmond, hinter Wolkenbergen -
manchmal nur schaut dich die Welt,
lässt sie Himmelswege ziehen,
als ob sie der Zeit entfliehen,
die die Nacht gefangen hält.

Fahles Licht – ziehst an den Sinnen,
treibst Gedanken, wie der Wind;
in den mondbeglänzten Räumen,
lässt du Mensch von Schatten träumen,
die am Tag vergessen sind.

Totengräber

Schlosstor – Ferdinand Knab (1837-1902)
Als würd zur Ruh getragen,
verblichene, tote Last,
liegt Welt in Tageskühle,
von Dunkelheit umfasst.

Vorüber ziehn die Träger
im Wind und Staub dahin,
fast unsichtbar die Schritte
und langsam zu Beginn.

Herbst wirbelt durch die Reihen
am Ort gekreuzter Hände,
Laub raschelt welk und leise -
einsam das Grabgelände.

Die greisen Blätter sinken,
es wehen kalte Tropfen,
die, so wie Tränen weinen,
mit monotonem Klopfen.

Gesichtslos die Gestalten,
die weißen, marmorbleichen,
die fern am Horizont,
wie wartend, Geistern gleichen.

Die Schnee und Kälte bringen
und Winters Sterben breiten;
sie warten auf den Herbst -
des Totengräbers Zeiten.

Entrückt

Quelle: Pinterest

Wenn ich genieße der Erinnerung kleines Glück,
in einem Leben, das ich heut‘ nicht wiederfinde,
leb ich im Traum, der Gegenwart entrückt,
so dass der Weg zurück sich nur im Müssen gründet.

Werd‘ immer in die Zeit zurückgezogen,
so wie am Gummiband gerissen, hin und her,
und bin ich erst der Schattenwelt entflogen,
zieht’s mich zurück – bald ohne Wiederkehr.

Dann BIN ICH, nur im großen Schweigen,
um mich herum, nur Sonne, Wind und Regen;
das ALL um mich, wo alle Sterne steigen
und paradiesisch blüht ein neues Leben.

Sibyllenweisheit – Claudius Gang nach Cumae

Priestess of Delphi – John Collier (1850-1934)

Es graute schon der Morgen.
Die Sonne stieg empor am Horizont;
brachte den neuen Tag, noch zeitverborgen,
von abgewandter Welt, wo Fremdheit wohnt.

In Träumen vorbestimmt, war mir, den Weg zu gehen.
Ich ging ihn langsam. – Was er bringen mag?
Nur zögernd kam der Sinn, es zu verstehen,
als schwere Last, die ich alleine trag.

Vom Schlaf beraubt, war schwer die Stirne.
Einsam, der Ort, den ich zu glauben wählte:
die Höhle von Cumae, dessen Geist im Hirne,
der empathielos Wahrheit mir erzählte.

Ängstlich, dem Schicksal Stirn zu bieten
oder es anzunehmen, wurd mir offenbar.
sich aufzulehnen, gegen die, die mich verrieten,
den Thron besteigen, der mir sicher wahr.

Draußen die Kälte, drin das kalte Grauen –
es roch nach Tod, als ich den Berg durchschritt.
Durch diese Höhle glitt mein erstes Schauen,
vom Mittelpunkt gebannt, als es entglitt.

Da lag im Boden, skelettiert die alte,
und in der Mitte saß die neue Seherin;
sie trug das Amt, wie alle die Gestalten,
die vor ihr waren und im Tod vergingen.

In Furcht erstarrten meine Glieder,
vom Mut verlassen sank ich auf die Knie.
Die Sinne schwanden immer wieder,
vom Rauch des Schaleninhalts – irgendwie.

Die Fackeln schwelten an den kahlen Wänden,
erleuchteten den Raum, der rauchdurchzogen;
den Kopf gesenkt und mit gekreuzten Händen,
vor einer Frau, die starr den Blick erhoben.

Sie saß auf ihrem Thron, an einem Orte,
der einzig Licht durchließ zu ihrem Haupte,
die Dunkelheit verschluckte erste Worte,
als sie mir sagte, was ich ahnend glaubte.

Ein rotes Tuch, das ihre Schultern wärmte,
erwärmte nicht die Kälte, die sie brachte,
und ihr Gesicht, das jung und schon verhärmte,
war wie erstarrt, nichts, was sie menschlich machte.

Die Tote, unsichtbar im Raum verborgen,
als sich das kegelhafte Licht im Raum ergoss,
herausgewachsen aus dem Schatten war der Morgen,
der nur die Seherin gezielt umfloss.

„Ich bin gekommen, um mein Schicksal zu erfragen,
auch das von Rom. Wie Feuer brennt es mir!“
Hörte mich stotternd diese Worte sagen;
ich zitterte und schämte mich dafür.

Verändert war der Ausdruck des Gesichtes,
es überkam sie die Gewalt des Sehens;
sie wand sich in der Macht des Lichtes,
prophetisch konnte sie alsdann verstehen.

Ein Windhauch wehte durch den Raum,
ein Flügelschlag hat meinen Sinn gestreift,
und göttlich war die Stimme, wie im Traum,
die aus ihr kam, von Dringlichkeit gereift.

Was sie mir sagte, will die Nachwelt wissen? –
Sie kannte die Geschichte meines Lebens.
Lang liegt bereits mein Schicksal im Vergessen.
Es lehrt: „Der Idiot“ war klug, Gespött vergebens!

Dieses ungewöhnliche Gedicht habe ich dem römischen Kaiser Claudius gewidmet, der zehn Jahre vor Beginn der christlichen Zeitrechnung geboren wurde. Es gab eine Filmserie, die ich in den 70er Jahren von meinem Krankenbett aus gesehen hatte, in der mich diese Persönlichkeit anzog.

Zu seinen Lebzeiten wurde „Tiberius Claudius Nero Germanicus“, (*1. August 10 v. Chr. in Lugdunum, heute Lyon; † 13. Oktober 54 n. Chr.), von seinen Freunden, Verwandten und Mitarbeitern als „Claudius der Idiot“ oder „Claudius der Stotterer“ verunglimpft. Auch in späteren Geschichtsbüchern wird er dargestellt als ein nicht zurechnungsfähiger Pedant, der seinen Frauen und Sekretären hörig war und eine Marionette der kaiserlichen Garde gegenüber.

In Wahrheit aber war er, obwohl er über keinerlei Praxis verfügte, einer der fähigsten, geschicktesten Herrscher gewesen, die Rom je gehabt hat. Seine finanziellen, religiösen und juristischen Reformen, seine militärischen Erfolge, die großen öffentlichen Arbeiten, die er angeregt hat, seine wohlwollende Gesinnung für das Volk müssen mit großer Bewunderung verfolgt werden.

Viele Beispiele, die für seine sogenannte Stumpfsinnigkeit angeführt werden, beweisen nur, dass er einen sonderbaren, feinen Humor hatte, dem der Beobachter unzugänglich war.

Eine große Klugheit zeigte er in der Außenpolitik, besonders nach Hermanns Sieg über Varus. Er verzichtete auf jede Anwendung von Gewalt, weil er die alteingewurzelte Abneigung der Deutschen gegen jede fremde Einmischung kannte und sorgte vor, stattdessen Britannien für das Römische Reich zu gewinnen.

Hier möchte ich ein Fazit zur jetzigen Zeit ziehen: Vieles ist besser als es scheint!

Herbstlicher Schauer

Ergießt sich regenschwer vom Himmel,
der verborgen blaut,
bis hinter nassen Schwaden,
aus dunklen Wolken,
frachtbeladen,
der Morgen graut.

Die Sehnsucht fließt in jedem Tropfen,
beugt sich dem Zwang der Erde,
saumselig lösen sich die Blätter,
zu fallen mit dem Wetter,
zielbewusst,
dass Herbstzeit werde.

Jägerlatein

Quelle: Pinterest
Was man körnerweise säte,
spross aus sonnenwarmer Erde;
garbenweise band man’s früher,
fuhr das Heu und Stroh zu Pferde.

Abgeerntet sind die Felder,
und die Jäger schießen wieder;
Schüsse hallen durch die Wälder,
töten Wildbret und Gefieder.

Schrot und Korn auf die gerichtet,
die in Freiheit äsend ziehen;
blutig ist der Tod und sinnlos,
schutzlos ins Gehölz zu fliehen.

Und der Jagdstock treibt noch immer. -
Tun‘s die Guten oder Bösen?
Menschen wechseln ihr Gewand,
doch sie wechseln nie ihr Wesen.

Jagdtrophäen für die 'Potenten',
die sich gern mit Leichen schmücken,
die beim Töten mit Gewehren
ihre Schwächen überbrücken.

Voll von Schnaps und Mordgelüsten,
nimmt die Treibjagd ihre Wende.
„Ist nur der Natur zum Besten!“ -
"Halali" – des Tötens Ende?