Kleiner Rückblick – Kindheit

Fortsetzung Teil 2

Meine Großeltern

Obwohl mein Opa täglich zehn Stunden und mehr im Stahlwerk schuftete, bekam er nur ein kleines Taschengeld, womit er sich ab und zu Zigarren der Marke „Weiße Eule“ oder Stumpen kaufen konnte. Darüber freute ich mich als Kind, denn die Bildchen, die sich in jeder Packung befanden, kamen wie ein Schatz in eine kleine Zigarrenkiste, die ich sorgsam hütete.

In den Nachkriegsjahren hatte Opa selbst im Garten Tabak angepflanzt, und er trocknete die geernteten Blätter in seiner Werkstatt. Das war ein übel riechendes, kaum genießbares Kraut gewesen. Wenn die Taschengeld-Zuteilung aufgebraucht war, gab es nur unter heftigsten Vorhaltungen von Oma einen Nachschlag.
Penibel war ihre häusliche Buchführung. Dafür benutzte sie jedes Blättchen, das sie trotz der Papierknappheit finden konnte. Selbst Opas vergilbte Gedichtheftchen, mit Deckblättern aus alten Feldpostkarten, wurden derart „entehrt“. Neben den einst von ihm gedichteten, sehnsuchtsvollen Liebesversen standen nun Zahlenkolonnen und Auflistungen von Ein- und Ausgaben, Kosten für Tabakwaren, Benzin für das 1936 angeschaffte Motorrad und Notizen über Weinansatz und Hypothekentilgung. Hin und wieder konnte man dort auch den Text eines Volksliedes finden. „Ja, grün ist die Heide…“, von Hermann Löns, hatte es Oma besonders angetan.
„Was die schöne Heide weiß, geht die Mutter gar nichts an…“, war eine Stelle aus diesem Lied. Wann immer es ihr in den Sinn kam, gab sie es lautstark zum Besten. Neumodische Musik war ihr ein Gräuel, und auch ihrem Mann war es nicht erlaubt, derartige „Niggermusik“ zu hören. Das Röhrenradio von Nordmende wurde lediglich zum Nachrichtenempfang genutzt. Abends, immer um dieselbe Zeit, saßen meine Großeltern beisammen und lauschten dem Hörfunksprecher.

Meine Oma war als Tochter eines Gutsbesitzers zusammen mit acht Geschwistern aufgewachsen und hatte bei einem Kürschner das Nähen gelernt. In stillen Stunden schwelgte sie sehnsuchtsvoll in Erinnerungen, erzählte von der elterlichen Trakehner-Zucht und dem geschwisterlichen Spiel auf dem Heuboden. Sie schwärmte von den Störchen, die sie besonders liebte, aber auch von den dunklen Wäldern, den Elchen, dem Flussufer der Memel mit Wiesen voller Frösche und Libellen und der Weite des Landstriches, von dem sie sagte, dass er dem Niederrhein ähnlich sei. Doch ihr Heimatland lag nicht nur weit vom Ruhrgebiet entfernt, sondern war im Krieg, nach Vertreibung der Deutschen und Besetzung durch die Russen, unerreichbar für sie geworden.

Ihre Eltern starben bereits in den 30er Jahren. Ihr Lieblingsbruder Eugen Ewald war 1944 in Labian gefallen. Zwei ihrer Schwestern, Hedwig und Olga, waren ihr nach Duisburg gefolgt, wo sie im Stadtteil Beeck eine Unterkunft fanden; Maria Meta verstarb bereits 1920 in Essen, Bruder Artur Hermann 1922 in Jagstellen/Ostpreußen; von zwei Brüdern zog Georg Willy nach Köln und August Emil nach Büderich bei Werl. Ihre Schwester Elisabeth Marta – von allen „Ratta“ genannt – lebte nach Kauf des Hauses, zusammen mit ihrem beamteten Mann, ebenfalls in einem Raum des Erdgeschosses im Hause der Großeltern.
(Fotos siehe: www.gottes-bilderbuch.de/ueber-mich/zum-gedenken/ostpreussen )

Nachdem ihr Gatte im Krieg gefallen war, verlor sie all ihre Lebensfreude und versank mehr und mehr in eine tiefe Depression, die sie mit billigem Fusel und Branntwein aus Methylalkohol zu betäuben versuchte. Sie verwahrloste völlig, hörte schließlich auf zu essen und unterließ jegliche Körperpflege. Manchmal saß sie im Bademantel mit wirren Haaren auf dem unteren Treppenabsatz und aß dick mit Wasser angerührten Malzkaffee-Brei. Als ihre Krankheit den Höhepunkt erreichte, lief sie ihrem Schwager im Garten mit einer Axt hinterher und schrie voller Verzweiflung: „Erschlag mich! Bring mich doch endlich um!“
Ratta, die, wie mein Vater sagte, einst eine patente Frau gewesen war, hatte ihre Gehirnzellen endgültig dem Alkohol geopfert. Aufgrund dessen wurde sie schließlich Anfang der 50er Jahre, von Wahnvorstellungen geplagt, in die Nervenklinik nach Bedburg-Hau eingewiesen, wo sie im Jahre 1964 verstarb.


Mein Opa stammte von einem Großbauern aus Lütz an der Mosel. Er war ein geselliger, ruhiger und gutmütiger Mann, handwerklich geschickt, der die sämtlichen Arbeiten am Haus erledigte und acht Jahre jünger war, als seine Frau.
In den 20er Jahren hatten beide ihre Heimat verlassen und waren ins Ruhrgebiet gezogen, weil es dort Aussichten auf ein gutes Auskommen gab. Opa hatte als Stahlwerker eine Arbeit bei den Krupp-Werken in Rheinhausen bekommen, und Oma kaufte mit ihrem Erbteil das 1896 erbaute Haus für 7.000 Goldmark.

Vor ihrer Heirat war es bei beiden Familien in Ostpreußen und an der Mosel zum Eklat gekommen, denn Oma war Protestantin und Opa Katholik. Das wurde seinerzeit wie ein kirchlicher Verrat angesehen und stieß überall auf herbe Kritik. Selbst in der Nachbarschaft wurde hinter vorgehaltener Hand darüber geschwätzt. Eine der unmittelbaren Nachbarfamilien war „schwarz-katholisch“ und ging nicht nur täglich in die Messe und zur Beichte, sondern pilgerte auch regelmäßig zur Wallfahrt nach Kevelaer.
Oma fand dafür nur ablehnende Worte. „Die Katholiken werden doch von Kindheit an durch die Beichte zum Lügen erzogen“, behauptete sie. „Denen kann man nicht trauen!“
Ob Katholik oder Protestant: Alle waren davon überzeugt, den einzig wahren Glauben zu haben. Wer andersgläubig war, wurde belächelt und verurteilt. Für diese Religionseiferer einen gemeinsamen Nenner zu finden, war ein Unterfangen, auf dem kein kirchlicher Segen ruhen konnte, denn konfessionelle Mischehen waren verpönt. Zeitlebens schimpfte Opa deshalb auf „die Pfaffen“, aber seine Frau war pietistisch fromm für beide zusammen.

Auch Opa hatte Geschwister. Einer seiner Brüder war nach München gezogen, der zweite, mit Namen Ferdinand, hatte zunächst Omas Schwester Olga geheiratet. Dann wechselte er zur Schwester Hedwig und begann zunächst ein Verhältnis mit ihr. Als die bedauernswerte Olga gezwungenermaßen mit beiden zu Dritt in einem Bett schlafen sollte, erhängte sie sich aus Kummer. Später heirateten Hedwig und Ferdinand. Es war ihre zweite Ehe. Ihrem ersten Ehemann war sie zwei Tage nach der Hochzeit in Ostpreußen davongelaufen.
Hedwig und Ferdi kamen häufig zu Besuch. Dann wurden die hauchdünnen, „guten“ Weingläser aus dem schwarz-braunen, goldfüßigen Schleiflack-Schrank geholt, und man saß bei Moselwein zusammen und schwelgte in Erinnerungen.


Als ich heranwuchs und begann, meine Umwelt bewusster wahrzunehmen, war das Gesicht von „Onkel Ferdinand“ ein besonders anziehender und gleichermaßen abstoßender Blickpunkt für mich. Seine linke Gesichtshälfte bedeckte nämlich ein Blutschwamm, der sich bis über den gesamten Hinterkopf erstreckte.

„Ist der Onkel krank?“, fragte ich immer wieder, und obwohl meine Oma hier ein deutliches „Nein“ aussprach, wurde die Frage stets wiederholt, sobald Ferdi zu Besuch kam. Meiner Oma war das peinlich, und sie versuchte es zu erklären, in dem sie mir erzählte, die Mutter von Onkel Ferdinand hätte sich während der Schwangerschaft vor Feuer erschreckt.

Ob das Aberglaube war oder nicht, Oma hatte immer Recht, wenn von solch mystischen Dingen sprach. Einmal blühte im Spätherbst die Hecke nach. Das war ihr ein Zeichen, dass jemand aus der Nachbarschaft sterben würde, und es traf ein. In der Nacht, als der Nachbar starb, hatte Oma Geistwesen in ihrem Schlafzimmer gesehen, die über den Kranken im Nebenhaus sprachen. Wie weiße Schwaden hätten sie im Raum gestanden und geflüstert: „Jetzt ist es vorbei!“

Ein anderes Mal wuchs einer Blume im Garten eine Knospe, in der sich zwei Blüten befanden. Jemand aus der Familie würde heiraten, prophezeite Oma, und so kam es dann auch.
Schon, als ich noch relativ klein war, erzählte mir Oma die Geschichte ihres Bruders Artur Hermann, der sich auf dem elterlichen Gutshof erhängt hatte.
„Er hat das „Sechste und Siebente Buch Moses“ gelesen“, hatte sie gesagt, „und damit die Toten gerufen!“ Anschließend sei er sie nicht mehr losgeworden. Das Buch wäre sieben Mal versiegelt gewesen. Der Bruder hätte aus Neugierde alle diese Siegel gebrochen und wäre deshalb immer tiefer in die Hände der Geisterwelt geraten. Schließlich hätte ihn das zum Selbstmord getrieben.
„Die Toten muss man ruhen lassen!“, warnte Oma. „Niemand darf sie rufen!“ Früher einmal hatte sie mit anderen zusammen Séancen abgehalten und den Geistern beim „Tischchen rücken“ Fragen über die Zukunft gestellt.
„Wenn die Toten schon lange von der Erde weg sind, wird ihre Schrift undeutlich“, hatte sie über das „automatische Schreiben“ gesagt, „dann ist es eine Sünde, sie zurückzuholen.“
Über Marta erzählte Oma ähnliche mysteriöse Dinge. Einmal sei diese ins Dorf zum Tanz gegangen und hätte dort einen Mann kennen gelernt. Völlig verändert wäre Marta danach ins elterliche Haus zurückgekehrt. Sie sei fortan wie verhext gewesen und geistesabwesend herumgeirrt. Oma erzählte, sie habe ihre Schwester daraufhin gefragt, was denn passiert sei.
„Jede Nacht kommt jemand und holt mich!“, hatte Marta ihr wie in Trance berichtet.

Oma wollte das nicht glauben und bot ihr an, am nächsten Abend das Bett zu tauschen. Als Oma in Martas Bett lag, erwachte sie mitten in der Nacht, weil jemand an ihrer Decke zog und raunte: „Das ist sie nicht!“ Dann wäre ein Heulen durch Haus und Garten gegangen, das Tor sei mit einem lauten Knall ins Schloss gefallen, und die Tiere im Stall hätten gelärmt. Der Spuk war nach diesem Vorfall vorbei gewesen und Martas Zustand hatte sich wieder normalisiert.

Im Haus hatte Oma das Sagen und führte ein sanftes Regiment, dem sich ihr Mann nicht zu widersetzen wagte. Ihr Schwiegersohn hingegen sehr. Als Oma eines Tages, wie immer mittags um 12 Uhr, ihren Mann mit einem lauten „Robert!“ zum Essen herbei rief, platzte meinem Vater fast der Kragen. Eine dringende Arbeit im Hof sollte gemeinsam mit dem Schwiegervater erledigt werden, doch Opa ließ nach dem zweiten Mahnruf die Arbeit sinken und machte sich auf zum Mittagstisch, wo sein Weib bereits sehr ungehalten auf ihn wartete. Der häusliche Frieden war ihm wichtiger. Er gab immer klein bei und schien sich mit allem abzufinden.
Irgendwann in späteren Jahren fragte mein Vater den Schwiegervater: „Warum haust du ihr nicht einmal eine runter?“
Dieser zuckte nur mit den Schultern und erwiderte kleinlaut: „Ach, sie ist doch schon so alt!“

Oma behielt die Hosen an und ließ ihren Mann durch ihre barsche und fromme Art in punkto Sexualität und Romantik „verhungern“. Das war nicht ihre Welt! Aber es wäre durchaus die von Opa gewesen, hätte er seine Sinnlichkeit denn ausleben können. So etwas brauchte sie genauso wenig wie die Musik. Sie hatte eine Tochter zur Welt gebracht, und aus war es fortan mit der körperlichen Liebe und den ehelichen Pflichten gewesen.

Notgedrungen ergötzte ihr Mann sich deshalb an der Unterwäsche der Nachbarin, wenn sie ihre Höschen zum Trocknen auf die Wäscheleine hängte oder an diversen pornografischen Fotos, die er mit sich herum trug wie ein kleiner, ungezogener Junge. Manchmal verschwand er damit im Plumpsklo auf dem Hof, das von allen Bewohnern des Hauses benutzt wurde.
Zeitungen dienten dort nicht nur der morgendlichen Lektüre, sondern wurden auch im stark verkleinerten Zustand zum Abputzen des „Allerwertesten“ benutzt, weil Toilettenpapier Luxus war, den man sich nicht leisten konnte.

wird fortgesetzt…

Autor: Gisela

Bitte auf meiner Seite "Über mich" nachlesen.

3 Gedanken zu „Kleiner Rückblick – Kindheit“

  1. Moin Gisela…
    Ich habe in meinem heutigen Post deine Homepage verlinkt… wenn du das nicht möchtest, sage bitte kurz Bescheid, dann nehme ich es wieder raus.
    LG vom Rolf

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