Weihnachtsabend

Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
Der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war’s; durch alle Gassen scholl
Der Kinderjubel und des Markts Gebraus.

Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,
Drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr:
„Kauft, lieber Herr!“ Ein magres Händchen hielt
Feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.

Ich schrak empor, und beim Laternenschein
Sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
Wes Alters und Geschlechts es mochte sein,
Erkannt ich im Vorübertreiben nicht.

Quelle: Andersen Märchen – Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
Noch immer hört ich, mühsam, wie es schien:
„Kauft, lieber Herr!“ den Ruf ohn Unterlaß;
Doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.

Und ich? – War’s Ungeschick, war es die Scham,
Am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh meine Hand zu meiner Börse kam,
Verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.

Quelle: Andersen Märchen

Doch als ich endlich war mit mir allein,
Erfaßte mich die Angst im Herzen so,
Als säß mein eigen Kind auf jenem Stein
Und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.

Theodor Storm (1817-1888)

Autor: Gisela

Bitte auf meiner Seite "Über mich" nachlesen.

2 Gedanken zu „Weihnachtsabend“

  1. Liebe Gisela, immer wieder eindrücklich, die Geschichte vom Bettelkind mit den Schwefelhölzchen! Danke für Deinen Beitrag. Es ist gut, wenn wir uns von anderen in ihrer Not berühren lassen und ihnen helfen, gerade in dieser schwierigen Zeit.
    Ich verehre Hans-Christian Andersen und seine Weisheit, in Kopenhagen sass ich neben einer sich bewegenden Figur, die ihn darstellen sollte, und „hörte“ ihm zu. Theodor Storm gehört zu meinen Lieblingsdichtern. Sein Aquis Submersus ist ein Meisterwerk, oder nicht? Alles Liebe, Elisa

    1. Liebe Elisa, ja, das Märchen hat es mir schon als Kind sehr angetan. Es gehört für mich zu Weihnachten. Ein Beispiel für die Not anderer, die wir nicht vergessen dürfen.
      Da hast Du schon viel erlebt. Neben einem Darsteller von Andersen zu sitzen, ist sicher ein unvergessliches Erlebnis.
      In meiner Biografie über Storm steht leider das von Dir erwähnte Buch nicht drin. Ich werde es im Net suchen und lesen. Ich war schon als Kind Verehrerin seines „Schimmelreiters“.
      Ganz liebe Grüße

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