Stufen

von Hermann Hesse
Quelle: Pinterest
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu jeder Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen.
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.
Hermann Hesse (1877-1962)
Gemälde von Ernst Würtenberger 1905

Treppe nach oben

Bild von stokpic auf Pixabay

Wie eine breite Straße liegt das Leben am Anfang vor uns. Jemand kümmert sich um die kleine Seele, die das Licht der Welt erblickt. Erste Schritte werden gegangen, vorsichtig, um nicht hinzufallen. Es ist wie eine Mahnung für den weiteren Lebensweg: Nur nicht hinfallen! Stolpersteine gibt es überall, Verlockungen, Begehrlichkeiten. Schon als kleines Kind lernt man die Verbote der Erwachsenen.

Trotzdem muss man weitergehen, und man merkt, dass es immer schwieriger wird, weil überall Gefahren lauern. Ein oft überfordertes Kind, in der Schule, im Familienleben. Als ich ca. 10 Jahre alt war, begannen meine Träume von einer spiralförmigen Treppe, die nach oben führte. Dieser Traum kam häufig wieder. Obwohl es nur eine Treppe war, war das ein Albtraum für mich. Ich wachte jedes Mal schweißgebadet auf.

Bild von Xuân Tuấn Anh Đặng auf Pixabay

Eine spiralförmige Steintreppe, in einem Treppenhaus ohne Fenster. Das Schlimmste war, die Treppe wurde immer schmaler, je weiter und höher ich ging. Ich lief, in der Hoffnung, doch noch einen Ausgang zu finden, denn rückwärts, nach unten, konnte ich nicht laufen. Also ging es höher und höher. Ich fürchtete mich, als die Treppe schmal wurde. In drückender Enge musste ich mich hinauf quälen und schließlich kam die letzte Stufe, aber da war kein Ausgang. Dort saß ein großes, gelbes Küken, das gerade so auf die Treppe passte und quietschte mich an.

Ich liebe Tiere und flauschige Küken, aber dieses Traumwesen machte mir derart Angst, dass ich tagelang darüber nachdenken musste. Was hatte der Traum zu bedeuten? Damals konnte ich die Deutung nicht finden. Erst jetzt wurde mir klar: Die Treppe war das Leben, ohne darin zurückgehen zu können, nur vorwärts, immer höher, wie in einer Spirale. Irgendwann kam unweigerlich das Ende…und was kam dann? Das Küken ist für mich Symbol für ein neues Leben. Das Rad des Schicksals dreht sich aufs Neue. Es ist nicht zu Ende!

Weltenwanderer Mensch

Du ringst und rufst nach Glück!
Kaum zeigt es sich,
so lässt es dich
in Einsamkeit zurück.
Denn es ist eine Sprosse nur auf unsrer Leiter,
komm weiter!
 
Das Leid, wie es dich schreckt!
Schon hat’s den Arm gestreckt,
dich zu erfassen –
und muss dich lassen!
Es ist ja eine Sprosse nur auf unsrer Leiter,
komm weiter!
 
Das Werk, das du erstrebtest,
dem du, dich opfernd, lebtest –
kaum hast du es getan,
gehört es andern an.
Ach, es ist eine Sprosse nur auf unsrer Leiter,
komm weiter!
 
So läuft der Erde Zeit.
Erst scheint der Tod dir weit,
dann ist er nah,
auf einmal ist er da!
Doch er ist eine Sprosse nur auf unsrer Leiter,
komm weiter!
 
Und neuer Fähigkeiten frische Kraft
in andern Leben neue Werte schafft,
und ein Erkennen löst das andre ab;
Erfahrung wird des früh’ren Wissens Grab.
Auch Wissen ist nur eine Sprosse auf der Leiter,
komm weiter!
 
Auch wir im Geistessonnenlicht,
auch wir im andern Land erschauen nicht
das Ende unsrer Leiter,
komm weiter!
 
<Ephides>