Wagen an Wagen

Vertreibung aus Ostpreußen 1945 – Quelle: Wissen.de
Um Allerseelen
in der dunklen Nacht,
wenn vor uns stehen,
die immer neu unserem Herzen fehlen, -
Erinnrung erwacht.

An die alten Kirchen, die Hügel im Feld,
wo sie schlafen, Vätern und Nachbarn gesellt,
in verlorener Heimat über der See, -
und an Alle, die hilflos und einsam starben,
an Alle, die sinkend im Eis verdarben,
die keiner begrub, nur Wasser und Schnee,
auf dem Weg unsrer Flucht, - dem Weg ohne Gnade!

Und wir ziehen im Traum verwehte Pfade
Wagen an Wagen, endloser Zug,
der ein Volk von der Heimat trug!

Von Norden, von Osten kamen wir,
über Heide und Ströme zogen wir,
nach Westen wandernd, Greis, Frau und Kind.
Wir kamen gegangen, wir kamen gefahren,
mit Schlitten und Bündel, mit Hund und Karren,
gepeitscht vom Wind, vom Schneelicht blind, -
      und Wagen an Wagen.

Zuckend wie Nordlicht am Himmel stand
verlassner Dörfer und Städte Brand,
und um uns heulte und pfiff der Tod,
auf glühendem Ball durch die Luft getragen,
und der Schnee wurde rot,
und es sanken wie Garben die hilflos starben,
und wir zogen weiter,
                              Wagen an Wagen, - -

Und kamen noch einmal, trügrisches Hoffen,
durch friedliches Land.
Tür stand uns offen,
bei jenen, die nicht unser Leiden gekannt.
Sie kamen, sie winkten, sie reichten uns Brot, -
sie luden die Not
am warmen Herde zu sich als Gast.
Scheune und Stroh rief müde zur Rast.
Doch wir konnten nicht bleiben,
wir zogen vorüber
                          Wagen an Wagen

und hörten durch Sturm und Flockentreiben
das Glockenlied ihrer Türme noch
und hörten doch
das Dröhnen des Krieges, der hinter uns zog,
und vom Wegkreuz bog,
blutend, mit ausgebreiteten Armen,
sich dorngekrönter Liebe Erbarmen.

Wir konnten nicht halten, wir konnten nicht knien.
Sie kamen hinter uns, Wagen an Wagen, -
Unsre Herzen nur schrien:
      O blick nach uns hin!

Wir wandern, wir wandern, endloser Zug,
Volk, das die Geißel des Krieges schlug,
entwurzelter Wald, von der Flut getragen, -
      Wohin?
                          Wohin? - - -
Agnes Miegel (1879-1964)

Brot der Sprache

Der jüdische Schriftsteller Hans Sahl (eigentlich Hans Salomon) 1902-1992 war vor den Nationalsozialisten nach Frankreich geflüchtet. Von dort gelang ihm 1941 die Emigration in die vereinigten Staaten von Amerika.

Kein deutsches Wort hab ich so lang gesprochen.
Ich gehe schweigend durch das fremde Land.
Vom Brot der Sprache blieben nur die Brocken,
die ich verstreut in meinen Taschen fand.

Verstummt sind sie, die mütterlichen Laute,
die staunend ich von ihren Lippen las,
Milch, Baum und Bach, die Katze, die miaute,
Mond und Gestirn, das Einmaleins der Nacht.

Es hat der Wald noch nie so fremd gerochen.
Kein Märchen ruft mich, keine gute Fee.
Kein deutsches Wort hab ich so lang gesprochen.
Bald hüllt Vergessenheit mich ein wie Schnee.