Heimatland

Auszeit am See – Ulla Genzel, Kevelaer (1960 -)

Ein Lauschen in die Stille hinein,
letztes Vogelsingen am Feldesrand.
Kein Motorenlärm zwischen Häuserreihen,
in Natur bettet sich das weite Land.

Wege verlaufen durch Feld und Flur,
eine Bank bietet Ruhe und Rast,
der Sonnenglanz sprüht eine Abendspur
auf Blätter, gemildert im Glast.

Mit Sternenaugen schaut vom Abendhimmel
der tröstende Gott herab,
fern von Sorgen und Weltgetümmel,
ruht in Frieden der Wanderstab.

Muttersprache, Heimatglück!,
zwischen Bäumen und leichten Winden,
längst entschwunden meinem Blick,
jedes Erinnern ein Wiederfinden.

Isidor, der Ziegenbock

Teil 2

Hirtenknabe – Franz von Lenbach (1836-1904)

Das waren glückliche Ostern! – Seit Menschengedenken hatte sich die liebe Gotteswelt noch nie so frühzeitig geschmückt wie in diesem Jahre. Die Weidenkätzchen rüttelten und schüttelten sich; ein flimmeriger Goldstaub wehte davon über die Wiesen. Die Holztaube ruckste in den alten Weidenköpfen, und mohnblaue Feldflüchter zogen mit reißendem Fluge über die Triften. Von den benachbarten Bauernschaften und Einzelgehöften fuhren die Leute zum Hochamt. Mit jungen Maien waren die Wagen geschmückt, und festlich geputzte Menschen legten heute ihre schwerfällige Eigenart ab, um glücklich mit den Glücklichen und fröhlich mit den Lerchen zu sein, die, Osterlieder singend, zu ihren Häupten schwebten.
Feierliche Glockenschläge gingen über das duftige Grasmeer; vom Schieferhelme des Kirchturmes wehte die lange Fahne in den päpstlichen Farben. Schwefelgelbe Quasten baumelten vom Flaggenstock und berührten fast die Kronen der frisch geschlagenen Maienbäume, die vor dem Portal aufgepflanzt waren. Von hier aus lief eine Via triumphalis bis zum katholischen Pastorat, flankiert von silberlichten Birken und bestreut mit geschnittenem Kalmus, dessen Geruch angenehm die schmalen Straßen durchströmte. Es war fast wie am Fronleichnamstage – so feierlich, so duftig und so prozessionsmäßig.
[..]
Schlaume Herzlieb lag noch immer im Grase und zählte die Hüpfer, die über ihn wegschossen.
Der warme Sonnenschein drückte sich zwischen die jungen Halme und weckte alles zum Leben, was leben konnte und wollte. In den Wassergräben trieben Pfeilkraut und Froschlöffel ihre Spitzen an die Oberfläche. Langbeinige Spinnen huschten darüber hin. – Isidor weidete stelzbeinig durch den saftigen Rasen. Für seinen Herrn hatte er kein Auge mehr. Er war total mit ihm verfeindet, denn dessen beleidigendes Ansinnen, seine Gunst auch der Meyer Pinkusschen Ziege teilhaftig werden zu lassen, trug allzu sehr den Stempel des Geschäftlichen an sich, hatte mit Liebe nichts gemein und lief somit seiner bockigen Ehre schnurstracks zuwider. Die Weiße von Cornelis Janßen, die Schwarz-Braune von Herrn Eusebius Dornkat und vor allen Dingen die Rahmfarbige, die Zimperliche mit dem himmelblauen Bändchen der Damen Nettchen und Settchen Käschen: das waren denn doch andere Nummern, das waren Geschöpfe, mit denen zu buhlen nichts Anrüchiges anhaftete, nichts Unliebsames anklebte. Im Gegenteil, hier konnte die freie Liebe ihre schönsten Triumphe feiern, hier konnte sie aufjubeln und gleichartige Herzen im Taumel des Genusses vereinen. Aber die Lahme mit dem abgebissenen Ohr …? Hier sah das pure Geschäft wie ein Frettchen aus dem Bau. Infam! – Es ging ihm wider die ehrliche Bocksnatur, sein Gewissen sträubte sich dagegen; die von ihm selbst ausgeklügelte Theorie über den idealen Liebesgenuß und seine praktische Anwendung in besonderen Fällen wurde hierdurch über den Haufen geworfen, und dieses erwägend, stieß Isidor plötzlich ein zorniges Gemecker aus, zeigte sich halsstarrig und machte Miene, sich mit gesenktem Gehörn und mit schleppendem Bart auf seinen ahnungslosen Herrn zu stürzen.

Schlaume sprang auf. Schnellfüßig rettete er sich hinter einen Weidenstamm, riß eine Gerte herunter und versetzte dem zudringlichen Bock etliche wohlgezielte Hiebe, die diesen etwas zur Vernunft brachten. Der Angriff war abgeschlagen, das Gleichgewicht scheinbar hergestellt, aber innerlich wurmte und kochte das, und Rachegedanken im schwarzen Busen hegend, machte Isidor kehrt und rupfte mit der gleichgültigsten Miene von der Welt fettes Gras und saftige Kräuter. Zuweilen nur drang die verhaltene Wut durch. Er mobilisierte alsdann etliche Korinthen und Rosinen, quirlte mit dem Schwanz und dirigierte die runden Geschosse auf Schlaume.
Schließlich merkte dieser die böswillige Absicht.

»Nu grade,« sagte Schlaume. »Un Du kriegst doch dem Herrn Meyer Pinkus die seine; aber die Rahmweiße un die mit’s dumme Gesicht von Herrn Eusebius Dornkat werden gestrichen. – Wir gehen nach Hause.«

Mit schwanker Weidengerte trieb Schlaume den steifen Bock vor sich her. Ängstlich vermied er die belebten Pfade. In großem Bogen lenkte er um die kleine Stadt, bog in die vereinsamten Gartenstege ein, um, von den grünen Hecken geschützt, den Stall zu erreichen. Er wollte am christlichen Feiertage kein Ärgernis geben.

Die braunrote Erdhummel von vorhin mußte wohl an Isidor ein besonderes Wohlgefallen gefunden haben, denn sie stellte sich von neuem ein, brummte schwerfälligen Fluges mit und machte nur ab und zu kleine Streifzüge in die nahegelegenen Gärten. Aber immer wieder taumelte sie über die Hagedorn- und Buchenhecken zurück, umkreiste Isidor – und so: Schlaume schimpfend und mit der Gerte fuchtelnd, Isidor meckernd und die dicke Erdhummel das tiefgestimmte Fagott blasend, zogen die drei auf verschwiegenen Wegen in die sonntägliche Stadt ein.

In den erwachenden Gärten trugen die Amseln dürre Stecken und faserige Quecken zu Nest. Die Aprikosen- und Pfirsichbäume spendeten Weihrauch, das sanfte Rauschen in den Obstbäumen erinnerte an fernes Orgelklingen, und die gelben Narzissen entfalteten ihre Sterne und muteten an wie Kerzen, die den Frühlingsgarten verschönten. Tausendfältig zirpte und geigte es zwischen den Hecken, die Vögel sangen dazwischen – aber alles wurde übertönt durch die mächtigen Klänge der Orgel, die jetzt aus der Kirche mit allen Registern über die Gärten frohlockte. Deutlich klangen die Aeolsstimmen und rief die vox humana herüber.

Das Hochamt war zu Ende. –
Duftig stieg der Weihrauch zur Decke; am hohen Sterngewölbe verflog er.
Die schweren Kirchentüren wurden geöffnet.
[..]

Sprachlos sah er in die enge Gasse, die mit ihren schiefen und winkeligen Häusern auf den Marktplatz führte. Entgeistert stierte er auf den teuflischen Spuk, auf den schwarzen, zottigen Gegenstand, der von dort herbeikapriolte.
Inzwischen waren Schlaume Herzlieb, Isidor und die fettleibige Erdhummel schimpfend und Gerte fuchtelnd, meckernd und fagottierend durch die blühenden und duftigen Gartenstege gezogen.
Schlaume achtete nicht auf das Grünen und Treiben in der Natur, auf das Zwitschern und Nesterbauen in den Zweigen und auf den belebenden Erdgeruch, der aus der warmen Scholle hervordrang.

Er mochte es sich eingestehen oder nicht, das offenbare Zerwürfnis mit Isidor, die Mißhelligkeiten und pekuniären Schäden, die aus dieser Zwietracht mit tödlicher Sicherheit erwachsen mußten, waren ihm in die Glieder gefahren. Ein ehrenvoller Rückzug seinerseits war hierdurch nicht nur angezeigt, sondern geradezu notwendig geworden, ein Rückzug, den er zuvörderst durch Enthaltung des Schimpfens in die Wege zu leiten gedachte. Also – er enthielt sich in erster Linie des Schimpfens.
Hierauf pfiff er ein fröhliches Liedchen in Gottes schöne Welt hinein.
Isidor achtete nicht darauf.

Alsdann führte er ein lautes Selbstgespräch, in welchem er die Vorzüge der Rahmweißen mit dem blauen Halsbändchen in die beste Beleuchtung stellte.
Es schien keinen Eindruck zu machen.
Als dieses nicht fruchtete, schlug er einen jovialen Ton an.
»Nu, Isidor, wo geht’s Dir?«

Schlaume hatte etwas Wehmut in die joviale Färbung der Fragestellung gemischt.
Derselbe negative Erfolg.
Isidor dachte gar nicht daran, so kurzerhand seinen Frieden mit Schlaume zu machen. Die Kränkung wurzelte zu tief. Bockbeinig, gesenkten Hauptes und auf seine wichtige Stellung als Geldverdiener fußend, zog er Schritt für Schritt den heimischen Penaten entgegen.

»Nu, denn nich!« sagte Schlaume.

Fortsetzung folgt

Isidor, der Ziegenbock

Teil 1

Hier einen solchen Romanauszug zu präsentieren ist schwer, zumal er sehr lang ist, obwohl ich schon etliches gekürzt habe. Anstelle des fehlenden Textes steht dieses Zeichen [..]

Die Geschichte ist Bestandteil des Romans „Marie Verwahnen“ (genannt: die Wachsmarie) von Joseph von Lauff (1855-1933). Ein Autor, den ich liebgewonnen habe, ebenso war er Lieblingsautor und Oberstleutnant des letzten deutschen Kaisers, der Kritik an der katholischen Kirche in seinen Romanen nicht verbarg. Im Gegenteil, er machte sie zu einer Karikatur, worüber man sich am ‚schwarzen‘ Niederrhein die Mäuler zerriss.

Eine Geschichte um den jüdischen Mitbürger Moses Herzlieb und dessen Sprößling Schlaume:

Isidor, der schwarze Ziegenbock

…oder Satan persönlich galoppiert in die Gemeinde, die gerade eine katholische Messe zu Ostern am Niederrhein verlässt.

Schon beizeiten und in aller Sonntagsfrühe hatte Schlaume Herzlieb seinen stattlichen Ziegenbock auf die Weide getrieben, um ihm die Wohltat des frischen Grases zu verstatten. Der meckernde Gesell war das Eigentum Schlaumes. Er konnte nach eigenem Ermessen über ihn schalten und walten, mußte allerdings alle Lasten, die mit der Haltung des Tieres verknüpft waren, tragen, war dafür aber auch der unumschränkte, glückliche Nutznießer des prächtigen Herrn aus dem Ziegengeschlecht, der als vielbegehrter Sprung- und Deckbock ein Erkleckliches abwarf.

Alle Ziegen der Nachbarschaft wurden diesem Pascha zugeführt, waren ihm tributpflichtig und genossen seine Liebe gegen die Hinterlegung eines Kastemännchens, das nach geschehenem Sprunge in die Tasche Schlaumes hinabklingelte. So häufte sich im Laufe des Jahres Kastemännchen auf Kastemännchen. Allmonatlich wurde die Kasse einer Revision unterzogen, und stets wies das Fazit ein erfreuliches Resultat auf.

»’s stimmt!« sagte alsdann der kleine Schlaume und schloß die Kassette wieder ab, auf deren Deckel die inhaltsschweren Worte ›Bock- und Sprunggelder for Salomo Herzlieb‹ in flüssiger Kurrentschrift verzeichnet standen.


Trotz des christlichen Jontefs (jüdisch für Festtag) hatte Schlaume zur Weide getrieben, und während Isidor gravitätisch durch das frische Grün stelzte, den Bart schleifte und mit dem Schwänzchen kapriolte und fröhliche Rädchen schlug, lag der kleine Judenbengel rücklings am Wiesenrand, schlenkerte das rechte über das aufgestemmte linke Bein und blinzelte zum Himmel auf, der in strahlender Bläue die weite, duftige Grasfläche überspannte. Schlaume war glücklich. In dieser Glückseligkeit nickte er dem bereits etwas steifbeinigen, aber würdigen Pascha zu – und dieser verstand ihn.

»Isidor!« rief der kleine Schlaume.

Der Bock meckerte auf.

»Übermorgen kommt die Weiße von Herrn Cornelis Janßen zu uns: macht ein Kastemännchen.«

»Mäh!« sagte der Pascha.

»Nü – un zu kommenden Freitag die Schwarz-Braune mit’s dumme Gesicht von Herrn Eusebius Dornkat.«

Der Bock meckerte wieder.

»Macht zwei Kastemännchen,« ergänzte Schlaume in tiefer Betrachtung. »Un denn kommt die Rahmweiße, die Zimperliche mit’s himmelblaue Bändchen von die Damens Käschen. ’ne Kapitalziege …! – Wieder ein Kastemännchen.«

Im behaglichen Vorgefühl der kommenden Dinge schloß der Steifbeinige die Augen, gab etliche Rosinen von sich und ließ sie durch eine schnelle Bewegung des Schwanzes turbinenartig rotieren.

»Isidor, un denn kommt die Schwarze mit die Hängeohren von Perdje Puhl – un denn die Fromme vom Herrn katholischen Pfarrer – un denn die Blässe mit’s dicke Euter von der liebreichen Frau Ankerwirtin. – Drei Kastemännchen auf einmal…! – Nu, Isidor«– un wo gefällt Dir die Sache?«

Dreimaliges Meckern von seiten des Paschas.

»Un denn,« fuhr Schlaume fort, »Isidor, gehst Du kapores! – un denn kommen die fünf mit die Glöckchens vom Entenbusch, un denn zuletzt – aber, Isidor, nimm’s mir nich übel! – die Lahme mit’s abgebissene Ohr: dem Herrn Meyer Pinkus die seine. Macht sechs Kaste Männchen ßusammen.«

Allein Schlaume hatte dieses Mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Höchst indigniert, verächtlich und mit langem Gesicht drehte sich der Pascha auf seinen steifen Beinen herum und gewährte Schlaume den Anblick seiner hinteren Seite. Er würdigte den Rechenkünstler keines Blickes mehr. Stocksteif und mit eingezogenem Buckel sah er in die Gegend hinaus.

»Isidor, bist Du meschugge?! – Is sie doch auch ’ne Ziege, die Lahme mit’s abgebissene Ohr: dem Herrn Meyer Pinkus die seine.«

Es war umsonst. Jeder Zuspruch fiel auf unfruchtbaren Boden. Isidor ließ sich auf nichts mehr ein, graste weiter und schnappte gelegentlich nach einer braunroten Erdhummel, die nicht müde wurde, um seine Nase zu taumeln.

»Püh – denn nich!« sagte Schlaume. »Gefällt Dir die Sache nich – mir aber gefällt sie. – Macht ßusammen zwölf Kastemännchen, gleich ’nem Taler preußisch Courant. Isidor, ’s stimmt.«

Also meditierte Schlaume, kümmerte sich nicht weiter um den halsstarrigen Bock, legte sich wieder rücklings ins Gras und schlug die Beine übereinander.

So mochte er etliche Stunden gelegen haben, als mit feierlichen Schlägen die Glocken zum Hochamt riefen. –

Fortsetzung folgt…

Am Niederrhein

Foto: Pieter Delicaat – Wikipedia

An der Niers am frühen Morgen,
schwebt ein Nebel, sanft bewegt,
und der Mond hält das Gebilde
fest am Boden, bis er geht.

An den Ufern strecken Bäume,
das Geäst zum Himmelszelt,
spinnen veilchenblaue Träume;
Schlaf entweicht der Vogelwelt.

Der Jasmin beginnt zu blühen,
glänzt im feuchten Morgentau.
Duft’ges Weiß liegt auf dem Grünen,
kontrastiert zum Himmelblau.

Weiden mit bizarren Ästen
winken heimatlich gesinnt,
bieten farbenfrohen Gästen,
Lebensraum und Neubeginn.

Nimmermüde Dotterblumen,
träumen schwefelgelben Traum,
lauschen selig den Gesängen,
aus dem hohen Lindenbaum.

Foto: Gisela Seidel

Grün erneuert sich das Leben,
Farbenrausch am Niederrhein,
Butterblumen an den Wegen,
Jedermann will draußen sein.

Senfsaat hat in manche Ecke
gelbe Blüten ausgestreut,
überdeckt die Erdendecke.
Seht nur, wie ihr Anblick freut!

Dunkles Erdreich atmet Schwere,
Schollen sind zur Saat bereit,
damit im Frühjahr wiederkehre,
was im Herbst zur Ernte reift.