Am Abend

Hans Andersen Brendekilde (1857-1942)

Wenn einst verrauscht des Lebens wirr Getön,
lass mich nicht einsam in den Abend gehn!

Ein Plätzchen vor der Tür! Die Luft so lind,
und neben mir ein treues Menschenkind,
das freundlich mit mir geht die alten Wege,
ein wenig mit mir weint, ein wenig lacht,
wie alte Leute tun, – ganz kurz, ganz sacht! –

Im Nachbarhof, nicht ferne, geht die Säge
mit scharfem Schnitt durch einen Baum;
wir schau’n uns an und nicken wie im Traum:
„Ja, ja, – so geht’s!“
Stumm tastet Hand nach Hand,
mit leisen Schritten kommt die Nacht ins Land,
wir merken’s kaum. –

Wenn einst verrauscht des Lebens wirr Getön,
lass mich nicht einsam in den Abend gehen!

Frieda Jung (1865-1929)
Ostpreußische Heimatdichterin
geboren im Landkreis Gumbinnen

Das Spiegelbild

The Mirrow – Sir Frank Francis Bernard Dicksee (1853-1928)

Oh, du Ergraute,
wie fremd wird mir dein Bild,
das Altvertraute,
und wie erscheint es mir so unbekannt?

Wo gestern noch der späte Sommer
wob mein Lebensband,
dort spüre ich den Herbst nun leise schleichen
und meinem unbeschwerten Ausseh’n
mussten Falten weichen.

Noch gestern blickte ich in junge Augen,
doch heute schau’n sie müde, voller Sorgen,
spür’ ich die Zeit an meinen Lebenskräften saugen,
frag’ ich dich Spiegel, was zeigst du
mir morgen?

Wieder Vollmond

Quelle: Pinterest

Fantasiere von Menschen,
die mit Smartphone vorüberstreben;
die wortlosen Alltagsgespenster,
geistern mit Ego in Händen durchs Leben.

Am Fenster sehen sie mich nicht.
Bin alt und dadurch unsichtbar…
eine von gestern, kein Werbegesicht.
Doch ohne Alte wären sie nicht da.

Mich ruft niemand an!
Unruhe wälzt sich durch Stunden.
Das Ticken der Uhr
ist zeitlos, verschwunden.

Wieder Vollmond
mit schlaflosen Nächten…
als wenn Träume das längst
Verlor’ne wiederbrächten.

Jemand ist da! Bin im Traum nicht allein.
Ich seh‘ mich im Dunkel laufen und laufen:
die Stadt, ihr Fremdsein,
mein Untertauchen.

Begleitet von einem
Scherenschnitt-Mann,
dessen wahres Gesicht
ich nie sehen kann.

Er gibt sich vertraut,
so seelenverwandt.
Wenn die Ruhe kommt,
nimmt er meine Hand.

Er redet mit mir,
wo sonst Schweigen ist,
und wenn ich weine,
umarmt er mich.

Treibt gedanklich mit mir
durch die nächtliche Stadt.
Teilt das, was vom Fernsehen
übrig ist und
sieht sich an Weltlichem satt.