jedes Jahr neu

Original von

Gedichte und Poesie von Gisela Seidel über Gott und die Welt
jedes Jahr neu

Original von


Das Jahr ward alt. Hat dünnes Haar.
Ist gar nicht sehr gesund.
Kennt seinen letzten Tag, das Jahr.
Kennt gar die letzte Stund.
Ist viel geschehn. Ward viel versäumt.
Ruht beides unterm Schnee.
Weiß liegt die Welt, wie hingeträumt.
Und Wehmut tut halt weh.
Noch wächst der Mond. Noch schmilzt er hin.
Nichts bleibt. Und nichts vergeht.
Ist alles Wahn. Hat alles Sinn.
Nützt nichts, dass man’s versteht.
Und wieder stapft der Nikolaus
durch jeden Kindertraum.
Und wieder blüht in jedem Haus
der goldengrüne Baum.
Warst auch ein Kind. Hast selbst gefühlt,
wie hold Christbäume blühn.
Hast nun den Weihnachtsmann gespielt
und glaubst nicht mehr an ihn.
Bald trifft das Jahr der zwölfte Schlag.
Dann dröhnt das Erz und spricht:
„Das Jahr kennt seinen letzten Tag,
und du kennst deinen nicht.“

| Snow White are the far-off plains, and white The fading forests grow; The wind dies out along the height And denser still the snow, A gathering weight on roof and tree Falls down scarce audibly. The road before me smooths and fills Apace, and all about The fences dwindle, and the hills Are blotted slowly out; The naked trees loom spectrally Into the dim white sky. The meadows and far-sheeted streams Lie still without a sound; Like some soft minister of dreams The snow-fall hoods me round; In wood and water, earth and air, A silence everywhere. Save when at lonely intervals Some farmer’s sleigh, urged on, With rustling runner and sharp bells, Swings by me and is gone; Or from the empty waste I hear A sound remote and clear; The barking of a dog, or call To cattle, sharply pealed, Borne, echoing from some wayside stall Or barnyard far afield; Then all is silent and the snow falls Settling soft and slow The evening deepens and the grey Folds closer earth and sky The world seems shrouded, far away. Its noises sleep, and I as secret as Yon buried stream plod dumbly on and dream… | Schnee Weiß sind die fernen Ebenen, und weiß werden die schwindenden Wälder; der Wind erstirbt auf der Höhe, und dichter noch wird der Schnee, der sich auf Dach und Baum sammelt und kaum hörbar niederfällt. Die Straße vor mir glättet sich und füllt sich schnell, und ringsumher werden die Zäune weniger, und die Hügel verschwinden langsam; die nackten Bäume ragen gespenstisch in den trüben weißen Himmel. Die Wiesen und die weiten Bäche liegen still, ohne einen Laut; Wie ein sanfter Minister der Träume umhüllt mich der Schneefall; In Wald und Wasser, Erde und Luft, Überall Stille. Es sei denn, dass in einsamen Augenblicken ein Bauernschlitten mit raschelnden Kufen und schrillen Glocken an mir vorbeizieht und wieder verschwindet, oder dass ich aus der leeren Einöde einen fernen, klaren Klang höre; Das Bellen eines Hundes oder der Ruf des Viehs, der von einem Stall am Wegesrand oder einer Scheune in der Ferne widerhallt; Dann ist alles still und der Schnee fällt leise und langsam Der Abend wird tiefer und das Grau faltet Erde und Himmel zusammen Die Welt scheint verhüllt, weit weg. Ihre Geräusche schlafen, und ich, heimlich, wie ein begrabener Bach, tappe stumm weiter und träume… |

Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.
Und das ist Leben: Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.


Schweigt der Menschen laute Lust,
rauscht die Erde wie in Träumen,
wunderbar mit allen Bäumen,
was dem Herzen kaum bewusst,
alte Zeiten, linde Trauer,
und es schweifen leise Schauer
wetterleuchtend durch die Brust.


Die Stirn bekränzt mit roten Berberitzen
steht nun der Herbst am Stoppelfeld,
in klarer Luft die weißen Fäden blitzen,
in Gold und Purpur glüht die Welt.
Ich seh hinaus und hör den Herbstwind sausen,
vor meinem Fenster nickt der wilde Wein,
von fernen Ostseewellen kommt ein Brausen
und singt die letzten Rosen ein.
Ein reifer roter Apfel fällt zur Erde,
ein später Falter sich darüber wiegt —
ich fühle, wie ich still und ruhig werde,
und dieses Jahres Gram verfliegt.

Agnes Miegel (1879 – 1964)

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Aus: Das Buch der Bilder 1906, Axel Junker Verlag

Rainer Maria Rilke 1875-1926

Max von Schenkendorf (1783–1817) hinterließ uns seine Dichtung „Freiheit, die ich meine“, die nach der Vertonung mit Melodie von Karl August Groos zu einem der bekanntesten Volkslieder hierzulande gehört.
Das zur Zeit des Biedermeier entstandene Lied wurde zunächst vor allem idealistisch-innerlich verstanden und später den „Vaterlands-, Helden-, Kriegs- und Siegesliedern“ zugeordnet.
| 1. Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt, komm’ mit deinem Scheine, süßes Engelbild. 2. Magst du nie dich zeigen der bedrängten Welt? Führest deinen Reigen nur am Sternenzelt? 3. Auch bei grünen Bäumen in dem lust’gen Wald, unter Blüthenträumen, ist dein Aufenthalt. 4. Ach! das ist ein Leben, wenn es weht und klingt, wenn dein stilles Weben wonnig uns durchdringt. 5. Wenn die Blätter rauschen süßen Freundesgruß, wenn wir Blicke tauschen, Liebeswort und Kuß. | 6. Aber immer weiter nimmt das Herz den Lauf, auf der Himmelsleiter steigt die Sehnsucht auf. 7. Aus den stillen Kreisen kommt mein Hirtenkind, will der Welt beweisen, was es denkt und minnt. 8. Blüht ihm doch ein Garten, reift ihm doch ein Feld auch in jener harten Stein erbauten Welt. 9. Wo sich Gottes Flamme in ein Herz gesenkt, das am alten Stamme treu und liebend hängt; 10. Wo sich Männer finden, die für Ehr und Recht muthig sich verbinden, weilt ein frei Geschlecht. | 11. Hinter dunkeln Wällen, hinter ehrnem Thor, kann das Herz noch schwellen zu dem Licht empor. 12. Für die Kirchenhallen, für der Väter Gruft, für die Liebsten fallen, wenn die Freiheit ruft. 13. Das ist rechtes Glühen frisch und rosenroth: Heldenwangen blühen schöner auf im Tod. 14. Wollest auf uns lenken Gottes Lieb und Lust. Wollest gern dich senken in die deutsche Brust. 15. Freiheit, holdes Wesen, gläubig, kühn und zart, hast ja lang erlesen dir die deutsche Art. |

Freiheitliches Denken und Handeln umfasst nicht nur die eigene Freiheit, sondern auch die der anderen. Das sollten wir nie außer Acht lassen! Wir sollten immer dazu bereit sein, sie gegenseitig zu verteidigen und zu schützen.

Man schmeckt den Herbst,
er schmeckt nach Haselnüssen,
nach Pflaumenkuchen und nach Apfelküssen,
nach Butterbirnen und Erinnerungen,
den – selbst im Alter unzerstörbar jungen.
Man riecht den Herbst,
er riecht nach letzten Rosen,
nach bunten Astern und nach Herbstzeitlosen,
nach Rauch und Feuer auf Kartoffelfeldern,
nach Pilzen, selbst gesucht in Heimatwäldern.
Man sieht den Herbst,
er prangt in allen Tönen
und will mit Früchten Mensch und Tier verwöhnen,
man hört sein Lied und spürt die festen Bande,
die man als Kind geknüpft zum Heimatlande.

Leider konnte ich nichts über Otto Daschowski, dem Dichter dieser schönen herbstlichen Verse erfahren. Ich veröffentliche sie hier ein weiteres Mal, und ich hoffe, dass niemand Einwände dagegen hat.

Interpreten: Zupfgeigenhansel
Musik von Johann Friedrich Reichardt (1752-1814)

Bunt sind schon die Wälder,
gelb die Stoppelfelder,
und der Herbst beginnt.
Rote Blätter fallen,
graue Nebel wallen,
kühler weht der Wind.
Wie die volle Traube
aus dem Rebenlaube
purpurfarbig strahlt!
Am Gelände reifen
Pfirsiche, mit Streifen
rot und weiß bemalt.
Dort im grünen Baume
hängt die blaue Pflaume
am gebognen Ast
gelbe Birnen winken
daß die Zweige sinken
unter ihrer Last
Welch ein Apfelregen
rauscht vom Baum! es legen
in ihr Körbchen sie
Mädchen, leicht geschürzet
und ihr Röckchen kürzet
sich bis an das Knie
Winzer, füllt die Fässer
Eimer, krumme Messer
Butten sind bereit
Lohn für Müh und Plage
sind die frohen Tage
in der Lesezeit
Unsre Mädchen singen
und die Träger springen
alles ist so froh
Bunte Bänder schweben
zwischen hohen Reben
auf dem Hut von Stroh
Geige tönt und Flöte
bei der Abendröte
und bei Mondenglanz
schöne Winzerinnen
winken und beginnen
frohen Erntetanz
Text von Johann Gaudenz von Salis-Seewis (1762-1834)
