Grab des Denkens

Maler: Hans-Georg Leiendecker

Sonnenschein, du Licht, verborgen
oft an frostbeschwerten Tagen,
segne uns mit deiner Wärme,
lass sie tiefe Spuren graben
in die eisigkalten Schollen,
rück sie fort vom Grab des Denkens,
die den Geist bedecken wollen.

Licht der Hoffnung, sei belebend,
schick‘ das Allmachtswort der Liebe,
dass es zur Erleuchtung bringt,
Dunkelsein im Weltgetriebe.
Leuchte uns den Weg ins Helle –
ganz, ganz leise in der Tiefe,
rieselt noch die reine Quelle.

Gesichtslos

Irrlicht am Fuße des Monte Civetta in den Dolomiten – Teodoro Wolf-Ferrari (1878-1945)
Nur der Wind fuhr durch die Bäume,
deren Höhe Wolken streiften
und des Rasens Dach durchnässten,
Nebel, die darüber schweiften.

Tanzend, wie das Laub sich drehte,
kreiste in der Strömung Lüfte;
tiefe Äste alter Tannen
strichen schwankend über Klüfte.

Zwischen Farn und toten Zweigen
bäumte Geist sich und Gestalt,
trieb gesichtslos in den Räumen
zwischen Feldern und Asphalt.

Marmorbleich war sie erschienen,
wie aus einer Friedhofsgruft.
War sie aus dem Grab gestiegen,
losgelöst in grauer Luft?

Auf ihr Kleid von weißem Linnen
fielen kalt die Regentropfen;
regungslos, ihr starrer Blick,
hört nicht mal den Rhythmus klopfen.

Legt sich, vor der Welt versunken,
selig, mit gekreuzten Händen,
in den See - der wunderhelle,
wo ihr Schlaf wird niemals enden.

Manchmal nur, wenn letzte Rosen
an des Herbstes Brust verblühn,
schwebt sie selig durch die Auen,
bis sich kehrt in weiß das Grün.

Das ist Leben…

von Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Gebirgige Flusslandschaft – Caspar David Friedrich (1774-1840)

Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

Und das ist Leben: Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Stoppelfelder

Unser Leben – ein bewachsenes Feld,
mit Getreide, das reift für die Ernte.
Halme, als Hoffnungen dargestellt,
für Pläne, die weit noch entfernten.

Saaten gelegt voll Erwartung und Fleiß –
üppig schossen die Triebe;
Sensenhiebe zerstörten das Reich,
dass von der Ernte nichts bliebe.

Abgemäht stehn die Stoppeln im Wind,
Enttäuschung gießt sie mit Tränen.
Gut, wenn der Felder Vielzahl es sind,
mit erntebereiten Plänen.

Nach Hause gehen

William Adolphe Bouguereau 1825-1905

Wir sind geblieben,
ließen dich nach Hause gehn,
nun stehn wir hier im Regen,
allein lässt du uns stehn
mit unsrer Trauer,
weil wir nicht begreifen,
dass dein Seelenreifen
vollzogen.

So bist du uns entflogen,
wie ein Vogel aus dem Käfig flieht,
wenn er fern das Sonnenlicht
am Himmel sieht.

Die liebsten Wünsche
begleiten deine Reise
und du wirst leise
schwebend deine Seele heben,
um zu erreichen deiner Sehnsucht
unendliches Streben.

Wirst du verbunden sein
mit dem, der deinen Namen rief,
dann schlafe sanft in seinem Arm und tief.

Kühler Zeitgeist

Quelle: Pinterest
Unter herbstlich dunklen Wolken
ziehen Vögel Richtung Süden,
stoßen niemals aneinander,
trotz der Nähe ihrer Flügel.

Wirbeln fort in grauen Lüften
und der Mensch wird vogelfreier;
wenn der Wind das Laub verstürmte,
blieb ihm jedes Blättchen teuer.

In so manchem ‚Friedensreich‘
wird der Schierlingsbecher wandern.
Friedlos ist der Mensch geblieben,
eigennützig ist sein Handeln.

Seht doch, wie die Vögel ziehen!
Rauschen durch die Wolkenbälle,
ziehen hin zu warmen Zielen,
fliehen vor der Kältewelle.

Ahnen nicht die bitteren Zeiten,
hören nicht den Zeitgeist klagen;
trotz der herbstlich kühlen Schauer
wird man sie gen Himmel tragen.

Fort sind sie und Nebelschwere
wob in Dämmerung graue Fäden,
und die Großen dieser Erde
wechselten geheime Reden.

Einen Heiland braucht das Leben,
der die Welt und Seelen heilt,
der schon einmal dagewesen,
der von Herz zu Herzen eilt.

Kalte Zeit, von Furcht durchsetzt,
gibst du Antwort auf die Fragen?
Der uns Flügel wachsen lässt,
wird uns einst gen Himmel tragen.

Sankt Martin

Sankt Martins Zug in Düsseldorf – Heinrich Hermanns (1862-1942)
„Sonne, Mond und Sterne“, sangen
alle groß und kleinen Kinder,
und von Haus zu Haus gegangen
sind die frohen Botschaftskünder.

Von Sankt Martin wurd‘ gesungen,
als er sah des Armen Leid,
der dem Tode nah gerungen -
gnädig teilte er sein Kleid.

Hoch zu Ross kam er geritten -
die Barmherzigkeit war groß,
sah den Armen, der gelitten,
dürr, in Lumpen, heimatlos.

Er gab hin den warmen Mantel -
wärmte nicht den Mann allein,
denn er ließ sein Bild des Handelns,
Teil der Nächstenliebe sein.

„Kleiner König“ sind die Bitten
und dein Singen obsolet?
Ziehn längst ein des Horrors Sitten -
Bild der Nächstenliebe geht!

Friede ist das Meisterwerk der Vernunft. – Immanuel Kant

Akademie Platon’s

Im alten Rom kannte man die lateinische Aussage: Si vis pacem para bellum = Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg.

Es ist immer gut, wenn Menschen für den Frieden beten und sich bemühen, mit den höheren Wesen zusammenzuarbeiten. So können diese Kraft in unsere Welt lenken, um Kriege, Gewalt und all das zu beenden, was die Zivilisation, in der wir leben, stört und bedroht.

Es wird immer und für lange Zeit irgendwo Kriege geben, weil die Menschen eine einfache Wahrheit noch nicht gelernt haben: Alle sind Teil einer großen geistigen Familie. Man kann zwar die Körper töten, aber die Geister nicht zerstören. Solange dieses Wissen nicht geteilt und von denjenigen, die die Angelegenheiten in den verschiedenen Ländern lenken, in die Praxis umgesetzt wird, wird es zwangsläufig zu Kriegsausbrüchen kommen.

Wenn der physische Körper abfällt, erweisen sich alle Glaubensrichtungen, für die Menschen lange gekämpft und gestrebt haben, als leer und vergeblich, sinnlos und zwecklos, denn sie haben nicht das Wachstum der Seele um ein Jota gesteigert, das nur durch den Dienst am Nächsten vermehrt wird, denn wenn der Mensch sich verausgabst im Dienst an andere, wächst seine Seele in Gestalt und Stärke.

Was nützt die irdische Erfahrung des Menschen, wenn sie im Vergleich zur Ewigkeit so begrenzt ist? Die Ewigkeit ist die Summe einer unendlichen Anzahl von Erfahrungen. In der Ewigkeit spielt jede Erfahrung, jede Handlung, jedes Wort und jeder Gedanke eine Rolle, so klein sie auch sein mögen. Die Ewigkeit ist das Ergebnis all dieser gesammelten Erfahrungen, und wenn eine davon fehlt, gibt es kein vollständiges Gleichgewicht.

In einem großen Orchester mit drei- oder dreihundert Musikern hat der Mann, der die Triangel spielt, der vielleicht als der unbedeutendste Instrumentalist angesehen wird, eine wichtige Rolle zu spielen, denn wenn er, wenn seine Zeit gekommen ist, den falschen Ton anschlägt, oder wenn er es versäumt, seinen Ton zum Volumen hinzuzufügen, dann würde die ganze Symphonie verzerrt werden. So ist es auch mit dem irdischen Leben. Es ist Teil, und zwar ein wesentlicher Teil, der Ausbildung der Seele, in der sie die Spuren dieser Ausbildung für immer unauslöschlich registrieren wird.

Frei nach Platon:

Wer den Frieden liebt, soll in den Krieg ziehen;
wer den Krieg liebt, wird ihn im Frieden schaffen.
So findet sich jeder, ewig schreitend durch das Tor des anderen, bis ihm nichts mehr fremd ist.

Wetterleuchten

von Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857)
Hügel mit Bruchacker bei Dresden – Caspar David Friedrich (1774 – 1840)

Schweigt der Menschen laute Lust,
rauscht die Erde wie in Träumen,
wunderbar mit allen Bäumen,
was dem Herzen kaum bewusst,
alte Zeiten, linde Trauer,
und es schweifen leise Schauer
wetterleuchtend durch die Brust.

5. Jahresgedenken

Patrick Seidel (1981-2019) – Foto privat

Bist so, wie mancher Stern, schon lang erloschen,
doch seh‘ ich dich im Glanze immerdar,
ein Bild, das voller Geist und Leuchten war;
wo Sonnen hier auf ihre Schatten stoßen,
im Erdendunkel, löschte aus dein Avatar*.

*Avatar: Sanskrit Bedeutung für Inkarnation