Kleine Stadt am Sonntagmorgen

Bild von Peggy Choucair auf Pixabay

Das Wetter ist recht gut geraten.
Der Kirchturm träumt vom lieben Gott.
Die Stadt riecht ganz und gar nach Braten
und auch ein bisschen nach Kompott.

Am Sonntag darf man lange schlafen.
Die Gassen sind so gut wie leer.
Zwei alte Tanten, die sich trafen,
bestreiten rüstig den Verkehr.

Sie führen wieder mal die alten
Gespräche, denn das hält gesund.
Die Fenster gähnen sanft und halten
sich die Gardinen vor den Mund.

Der neue Herr Provisor lauert
auf sein gestärktes Oberhemd.
Er flucht, weil es so lange dauert.
Man merkt daran: Er ist hier fremd.

Er will den Gottesdienst besuchen,
denn das erheischt die Tradition.
Die Stadt ist klein. Man soll nicht fluchen,
Pauline bringt das Hemd ja schon!

Die Stunden machen kleine Schritte
und heben ihre Füße kaum.
Die Langeweile macht Visite.
Die Tanten flüstern über Dritte.
Und drüben, auf des Marktes Mitte,
schnarcht leise der Kastanienbaum.

Erich Kästner (1899-1974)

Trugschluss

John William Waterhouse  1849-1917

Manche Träume, die träumt man allein,
des Abends bei flackernden Kerzen,
manch eine Treue ist leider nur Schein,
die Wahrheit erkennt man mit Schmerzen.
 
Manch einen Wandel durchlebet die Zeit,
was gestern geglänzt, steht durchrostet.
Schnell friert die Liebe im eisigen Kleid,
Wärme von einst ist durchfrostet.
 
Vermeintliches Gold wird zum wertlosen Tand,
blättert ab von brillanter Attrappe.
Nimmt dem Edlen das Feine, die entblößende Hand,
wird das Hartgold zur biegsamen Pappe!
 
Manch eine Liebe ist Alltag und Pflicht,
manch eine bringt Wachstum und Segen.
Gefühl und Vertrauen, wenn beides bricht,
sinkt die Sonne im Schatten des Regens.

Stille

Dort, wo die Stille durch die Bäume sinkt
und friedvoll mit dem Dunst zu Boden schwebt,
dort, wo des Vogels Lied so traurig klingt,
dort sende ich dir Grüße im Gebet.
 
Dort, wo auf Gräbern, die vergessen liegen,
Unkräuter blühen, statt der Blumen Zier,
dort, wo die Zweige, die im Wind sich wiegen,
ganz leise flüstern zu den Mauern hier.
 
Dort, wo die Marmorsteine kraftvoll glänzen,
neben den namenlosen, alt und unerkannt,
wo Todesengel wachend bei den Kränzen
irrende Seelen führen in das Anderland.
 
Dort, wo der Tränen Fluss die Erde nährt
und auch der Himmel Trauertränen weint,
dort wird die Seele, die gen Himmel fährt,
still mit der Gottes-Ewigkeit vereint.
 

Der Dom

(1831)

Caspar David Friedrich (1774-1840) – Der Träumer

Ich lieb dich nicht,
der frühe Traum zerrann
durch Qual und Leidenschaft.
Doch ist dein Bild im Seelenraum lebendig noch,
doch ohne Kraft.

Längst andern Träumen folg’ ich schon.
Vergessen dich, hab’s nicht vermocht. –
Ein Dom verlassen – bleibt ein Dom,
ein Götze, der gestürzt, bleibt Gott.

andere Übersetzung aus dem Russischen von Hans Baumann:

Wir trennten uns. Dein Bild blieb klar
und unversehrt in mir zurück.
Umglänzt von dem, was einmal war,
erhellt es mir das Herz und Glück.

Viel reißt der Leidenschaften Strom
dahin. Dein Bild hat er verschont.
Der Dom, verlassen, ist noch Dom,
Der Gott noch Gott, wenn auch entthront.

Maler unbekannt

Michail Jurjewitsch Lermontow (1814-1841)

Kerzen

Kerzen, sie streuen
mit flackerndem Scheine
nächtliche Schatten im Tanze,
breiten es aus, ihr Licht, das reine,
himmliche Aura im Kranze.

Feuer strahlt milde,
ein rotgold’nes Glühen,
umzüngelt begierig den Docht,
entrinnt wie ein festliches Feuersprühen,
dem Herzen aus Wachs, das nicht pocht.

Jean Baptiste Santerre (1651-1717)

Der schöne Sommer

Otto Pippel (1868-1960)

Der schöne Sommer ging von hinnen,
der Herbst, der reiche, zog ins Land.
Nun weben all die guten Spinnen
so manches feine Festgewand.

Sie weben zu des Tages Feier
mit kunstgeübtem Hinterbein
ganz allerliebste Elfenschleier
als Schmuck für Wiese, Flur und Hain.

Ja, tausend Silberfäden geben
dem Winde sie zum leichten Spiel,
die ziehen sanft dahin und schweben
ans unbewusst bestimmte Ziel.

Wilhelm Busch (1832-1908)

Schicksalsschleier

Caspar David Friedrich 1774-1840

Wirst du erwartungsvoll nach einer Antwort suchen
und fragend deinen Blick zum Himmel lenken,
in Träumen einen unbekannten Namen rufen,
und auch am Tage oft an dies Geheimnis denken?
 
Versperrt ist noch der freie Zukunftsblick,
wart’ nur, das Schicksal wird dir Zeichen senden,
und eines Tages mit noch unbekanntem Glück,
dein Leben und dein Los zum Guten wenden.
 
Das Namenlose, das du suchst, du wirst es finden,
das Unbekannte, es bekommt Gesicht.
Kannst du es lieben, wirst du selbst ergründen,
ob du Erfüllung wähltest oder nicht.
 
Suche den rechten Weg, folg deinem Herzen;
lass alles was dich traurig macht zurück.
Die Engel leuchten dir mit Wunderkerzen,
Gott leitet dich auf deinen Weg ins Glück.
 
Fühlst du, der Himmel stellt des Lebens Weichen
für viele neue Wege, die wir gehen.
Eine Vision wird plötzlich dir die Hände reichen,
wo du es nicht erwartest, werden Engel stehen.

Ewige Liebe

Tristan und Isolde – John William Waterhouse 1849-1917

Die Liebe möcht’ ich fühlen
in allen meinen Zellen,
 
möcht’ meinen Blick, den kühlen
ins Licht erwärmend stellen;
 
ganz in Gedanken sinken,
die sehnsuchtsvoll entbrennen;
 
ein freundschaftliches Winken
am Horizont erkennen.
 
Vertraute Hände fühlen,
auf meinen, liebevoll,
 
in der Erinn’rung wühlen,
voll Glück und ohne Groll;
 
vertraulich mich ergänzen
mit der geliebten Seele,
 
im hellen Sonnenglänzen
genießen traute Nähe.
 
Möcht’ Seligkeit erleben,
die es auf Erden gibt,
 
mich ganz und gar ergeben,
dem, der mich ewig liebt.

Biografien

Alexandre Cabanel  1823 – 1889

Blasses Erinnern
an verfälschte Farben.
Vergangene Zeiten starben,
mit ihnen die Spuren
historischer Figuren;
farblos, verblasst durch die Zeit,
nur noch schwarz-weiß,
dünn und zaghaft die Striche;
 
so leis’ ist müde sie geschlichen,
hat alles mitgenommen
und ganz verschwommen
sind manche Biografien
einem Schattenriss gewichen;
 
die einst so großen Weltfiguren,
abgebildet mit zerflossenen Konturen,
wässrig und durchscheinend,
in trüber Transparenz,
erscheinen wie ein falsches Gold,
das niemals hat geglänzt.