Sehnsucht und Einsicht

Élisabeth-Louise Vigée-Lebrun (1755-1842)

Lang lag ich wach in abendlicher Stunde,
mein Körper müd, jedoch gedankenhell.
Wird es bald Nacht? Ersehnte Traumsekunde!
Wie ging mein Tagesablauf gar so schnell?

Der frühe Morgen, dem ich einst entstiegen,
ist schon durchlebt. Bin nicht bereit zu scheiden!
Seh‘ die Vergangenheit Revue passieren
auf bunten Wiesen, meiner Kindheit Weiden.

Da lockte neue Sehnsucht mit Erfüllung,
der Geist ließ meine Seele tanzend heben;
des Lebens Suche nach stets neuer Stillung
ließ manches Abenteuer mich erleben.

Ich sah mich selbst, die Hände streckend
nach manchem Glanz, der keiner war.
Zerstörend, seh‘ ich müd mich recken,
das greifend, was sich mir versagte.

Bedenkenlos war’n viele meiner Stunden,
die ich an manchem Tag durchlebte.
So ist Vergangenes mit ihm verschwunden,
was bleibt: das von mir selbst Gesäte.

Winterschlaf

Eugen Bracht (1842-1921)

Es treibt des Winters kalter Hauch
den Wind über die Felder,
durch alle Wiesen, jeden Strauch;
der Schnee bedeckt die Wälder.
 
Es ruht die Seele der Natur
vom langen Sommerreigen;
gesenkter Puls der Zeit
 will uns zur Ruhe treiben.
 
Was Außen kalt, ist Innen warm,
so wie das Frühlingskeimen,
Väterchen Frost streckt seinen Arm,
deckt zu, was im Geheimen.

Der Seele Kern erinnert sich,
wie Sonnenstrahlen glänzen,
wird sich auf Frühlingstage freu’n,
den Neuanfang bekränzen.


Namenloses Sehnen

Im Geheimen – Sulamith Wülfing 1901-1989

Du stehst im Dunkeln –
unerkannt,
verborgen dein Gesicht.
Nie wird dein Name mir genannt,
und wie ein Schatten tauchst du aus dem Licht.
 
Wer bist du, unbekanntes Wesen,
nach dem mein Herz so sehnend dürstet?
Wartest du schlummernd,
bis die Zeit gereift?
Siehst du nicht, wie sie gnadenlos ergreift
mein klagend Leben?
So wird sich bange Sehnsucht
in die Stunden weben
und mich verzweifeln lassen
an der Seeleneinsamkeit.
 
Ich bitte dich, oh Zeit,
nimm mir die finst’ren Qualen
und zeig im Licht, was du mir vorgesponnen!
 
Wird neue Liebe mir den Ausgleich zahlen,
für das Vertrauen, das sie einst genommen?

Unnahbarer

Ludwig II. – Schloss Neuschwanstein

Unnahbarer,
wie du dich sträubst und windest,
und dennoch wieder findest
deiner Seele Sehnen,
im flüchtigen Moment, sekundenlang,
in unerkannten Blicksekunden,
hast du dein scheues Ich verbunden
mit längst vergess’nen Tönen.

Du hörst die Harmonie
und schreckst vor diesem Klang,
der in dein Ohr dringt
und dir ‚Nähe’ haucht,
du willst nicht,
dass sich die Distanz verbraucht,
und deine Seele taucht,
so ängstlich, zukunftsbang.

Flüchtiges

Foto: Gisela Seidel

Ich schau zum Himmel…
wie das Wolkenband entschwebt,
so, wie die Zeit entgleitet,
und die Gedanken suchen
ihren Weg zu dir,
fern bist du mir, so, wie die Schäfchen
dort am Firmament.

Ich trage dich
in meinem müden Herzen,
wie ein Beben,
das mich erweckt und fühlend macht,
im Schmerz.
Der Tag vergeht,
so, wie das Wolkenband entschwebte,
doch du bliebst fern mir.

Oh, so dunkel wird die Nacht!
Die langen Stunden waren voller Schweigen,
gefüllt mit Sehnsucht bin ich,
wie ein Schwamm, mit Bitterkeit.
Ich resigniere an der Welt, am Leben,
wo ich die Liebe suchte,
fand ich Leid.

Verbotene Sehnsucht

So, wie die Schwalben ohne Rast
zu segeln durch die Lüfte,
 
mit allen Sinnen, fern der Last
zu atmen süße Düfte;
 
oh, wie du lockst, du weite Welt,
mit Schönheit und mit Leben,
 
und jeder Stern am Himmelszelt,
will meine Sehnsucht regen;
 
wie leide ich an meiner Ruh’
der abgeschied’nen Welten,
 
so hör’ mich rufen, laut: Nur DU
kannst meiner Seele helfen!
 
Wollt’ nahe sein nur DIR, mein Herz
und opfern DIR mein Leben,
 
dass Einsamkeit mir wird zum Schmerz,
bitt’ ich DICH zu vergeben.
 
Seh’ nicht als Sünde meinen Drang
des Daseins Sinn zu üben,
 
folg’ trotzdem DIR ein Leben lang,
gib meiner Seele Frieden.