Gesichtslos

Irrlicht am Fuße des Monte Civetta in den Dolomiten – Teodoro Wolf-Ferrari (1878-1945)
Nur der Wind fuhr durch die Bäume,
deren Höhe Wolken streiften
und des Rasens Dach durchnässten,
Nebel, die darüber schweiften.

Tanzend, wie das Laub sich drehte,
kreiste in der Strömung Lüfte;
tiefe Äste alter Tannen
strichen schwankend über Klüfte.

Zwischen Farn und toten Zweigen
bäumte Geist sich und Gestalt,
trieb gesichtslos in den Räumen
zwischen Feldern und Asphalt.

Marmorbleich war sie erschienen,
wie aus einer Friedhofsgruft.
War sie aus dem Grab gestiegen,
losgelöst in grauer Luft?

Auf ihr Kleid von weißem Linnen
fielen kalt die Regentropfen;
regungslos, ihr starrer Blick,
hört nicht mal den Rhythmus klopfen.

Legt sich, vor der Welt versunken,
selig, mit gekreuzten Händen,
in den See - der wunderhelle,
wo ihr Schlaf wird niemals enden.

Manchmal nur, wenn letzte Rosen
an des Herbstes Brust verblühn,
schwebt sie selig durch die Auen,
bis sich kehrt in weiß das Grün.

Das ist Leben…

von Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Gebirgige Flusslandschaft – Caspar David Friedrich (1774-1840)

Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

Und das ist Leben: Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Stoppelfelder

Unser Leben – ein bewachsenes Feld,
mit Getreide, das reift für die Ernte.
Halme, als Hoffnungen dargestellt,
für Pläne, die weit noch entfernten.

Saaten gelegt voll Erwartung und Fleiß –
üppig schossen die Triebe;
Sensenhiebe zerstörten das Reich,
dass von der Ernte nichts bliebe.

Abgemäht stehn die Stoppeln im Wind,
Enttäuschung gießt sie mit Tränen.
Gut, wenn der Felder Vielzahl es sind,
mit erntebereiten Plänen.

Nach Hause gehen

William Adolphe Bouguereau 1825-1905

Wir sind geblieben,
ließen dich nach Hause gehn,
nun stehn wir hier im Regen,
allein lässt du uns stehn
mit unsrer Trauer,
weil wir nicht begreifen,
dass dein Seelenreifen
vollzogen.

So bist du uns entflogen,
wie ein Vogel aus dem Käfig flieht,
wenn er fern das Sonnenlicht
am Himmel sieht.

Die liebsten Wünsche
begleiten deine Reise
und du wirst leise
schwebend deine Seele heben,
um zu erreichen deiner Sehnsucht
unendliches Streben.

Wirst du verbunden sein
mit dem, der deinen Namen rief,
dann schlafe sanft in seinem Arm und tief.

Kühler Zeitgeist

Quelle: Pinterest
Unter herbstlich dunklen Wolken
ziehen Vögel Richtung Süden,
stoßen niemals aneinander,
trotz der Nähe ihrer Flügel.

Wirbeln fort in grauen Lüften
und der Mensch wird vogelfreier;
wenn der Wind das Laub verstürmte,
blieb ihm jedes Blättchen teuer.

In so manchem ‚Friedensreich‘
wird der Schierlingsbecher wandern.
Friedlos ist der Mensch geblieben,
eigennützig ist sein Handeln.

Seht doch, wie die Vögel ziehen!
Rauschen durch die Wolkenbälle,
ziehen hin zu warmen Zielen,
fliehen vor der Kältewelle.

Ahnen nicht die bitteren Zeiten,
hören nicht den Zeitgeist klagen;
trotz der herbstlich kühlen Schauer
wird man sie gen Himmel tragen.

Fort sind sie und Nebelschwere
wob in Dämmerung graue Fäden,
und die Großen dieser Erde
wechselten geheime Reden.

Einen Heiland braucht das Leben,
der die Welt und Seelen heilt,
der schon einmal dagewesen,
der von Herz zu Herzen eilt.

Kalte Zeit, von Furcht durchsetzt,
gibst du Antwort auf die Fragen?
Der uns Flügel wachsen lässt,
wird uns einst gen Himmel tragen.

Sankt Martin

Sankt Martins Zug in Düsseldorf – Heinrich Hermanns (1862-1942)
„Sonne, Mond und Sterne“, sangen
alle groß und kleinen Kinder,
und von Haus zu Haus gegangen
sind die frohen Botschaftskünder.

Von Sankt Martin wurd‘ gesungen,
als er sah des Armen Leid,
der dem Tode nah gerungen -
gnädig teilte er sein Kleid.

Hoch zu Ross kam er geritten -
die Barmherzigkeit war groß,
sah den Armen, der gelitten,
dürr, in Lumpen, heimatlos.

Er gab hin den warmen Mantel -
wärmte nicht den Mann allein,
denn er ließ sein Bild des Handelns,
Teil der Nächstenliebe sein.

„Kleiner König“ sind die Bitten
und dein Singen obsolet?
Ziehn längst ein des Horrors Sitten -
Bild der Nächstenliebe geht!

Wetterleuchten

von Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857)
Hügel mit Bruchacker bei Dresden – Caspar David Friedrich (1774 – 1840)

Schweigt der Menschen laute Lust,
rauscht die Erde wie in Träumen,
wunderbar mit allen Bäumen,
was dem Herzen kaum bewusst,
alte Zeiten, linde Trauer,
und es schweifen leise Schauer
wetterleuchtend durch die Brust.

Licht sein

Jesus heilt eine blutflüssige Frau – 4. Jahrhundert Katakombe Petrus Marcellinus Rom -s. Lukas 8,44

Was wir ersehnt, erstrebt, erhofft,
es treibt wie altes Holz im Strom des Lebens,
wir träumen manchen Lebenstraum vergebens
und widmen unser Herz dem Falschen oft.
Zurück bleibt nur die lichte Liebe, die wir schenkten;
oft ist sie nur ein Funke, mal ein helles Denken,
das in uns Sonne wird, die durch uns scheint,
und wenn sie Irdisches mit Himmlischem vereint,
dann geht ein stilles Leuchten durch den Raum
und flüchtig küssen wir den Saum
Seines Gewandes.

Nebel der Nacht

Quelle: Pinterest
Die Nebel der Nacht, sie weichen,
vom Licht des Tages durchströmt,
zu Pan‘s verborgenen Reichen,
wenn der Weckruf des Morgens tönt.

Morgen, der grau umfangen,
lichtarm zeigst du dich und mild;
nebelhaft giert dein Verlangen
nach einem herbstlichen Bild.

Schlummerschwer sind alle Augen,
wenn sie vom Tiefschlaf erwacht;
tragen aus traumhaften Lauben,
Schleier, der herbstlichen Pracht.

Stehen an Fenstern und sehen,
Blatt für Blatt, wie sie fallen;
sehen die Herbstzeit vergehen
und das Fallen in Allem.

Lebensenergie

Quelle: Pixabay
Wie die Menschen applaudieren! –
Tosend spielt die Show des Lebens,
Bilder nur, die längst vergangen -
Alte, die mal jung gewesen.

Andersartig sie erscheinen,
Zwang kriecht zwischen ihre Reihen;
wollen sittsam, Anzug tragend,
dezent, frisch frisiert erscheinen.

Nur der Moderator lächelt,
er macht Scherze, die erheitern;
lachend klatscht das Publikum,
schon geht die Scharade weiter.

Bilder sind es, die verstummen,
wenn man die Geräusche nimmt;
seh‘ die Schatten, wie sie fliehen,
wie ihr Licht im Raum verglimmt.

Dieser Film zeigt hier ein Leben,
das längst nicht mehr existiert,
alle, die darin erscheinen,
hat Gevatter Tod entführt.

Ihre Energie lebt weiter,
„Show must go on!“, die höher führt,
strebt frei empor die Jakobsleiter,
im Kreislauf Leben integriert.