Werden und vergehen

Grabstein auf dem Melatenfriedhof in Köln. Foto: Gisela Seidel

Es ist ein ewig Auf und Ab,
ein Werden und Vergehen.

Die Erde ist ein großes Grab,
die Zeit nur ein Geschehen.

Wie Blätter fallen sie vom Baum,
die vielen Todgeweihten.

Die Lebenszeit bleibt nur ein Traum
von Hoffnung in den Zeiten.

Du schöne Welt, du süßer Klang,
bald muss ich Abschied nehmen.

Bin wie die Vielen müd und bang,
vom Dasein wund gelegen,

und bettet mich der Sonne Strahl
in neue Frühlingsfülle,

so wandle ich ein weit’res Mal
auf dieser Erdenhülle.

Verklärtes Lied – im letzten Klang
dem Himmelsglanz zu singen;

der alten Töne neuer Sang,
Vollendung und Beginnen.

Gebet

von Rainer Maria Rilke

Viktor Sieger (1843-1905)

Ich sprach von Dir als von dem sehr Verwandten,
zu dem mein Leben hundert Wege weiß,
ich nannte Dich, den alle Kinder kannten,
für den ich dunkel bin und leis.

Ich nannte Dich den Nächsten meiner Nächte
und meiner Abende Verschwiegenheit,
und Du bist der, in dem ich nicht geirrt,
den ich betrat wie ein gewohntes Haus.
Jetzt geht Dein Wachsen über mich hinaus:
Du bist der Werdenste, der wird.

Aus dem Worpsweder Tagebuch 4.10.1900

XIII. Sonett an Orpheus

Sei und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.

Text: Rainer Maria Rilke 1875-1926

Halloween

Quelle: Stardock.com
Die ersten Kerzen sind entzündet,
so mancher Kürbis kriegt Gesicht,
an Halloween wird heut verkündet,
das, was man schenken soll, ist Pflicht.

Vor Türen stehn die frechen Gören,
mit Handylichtern und Geschrei.
Sie drohen denen, die nicht hören,
mit Rache, die gar sauer sei.

So einfach kann man bössein lernen -
die alte Zeit, wo ist sie hin?
Da gingen Kinder mit Laternen
von Haus zu Haus mit gutem Sinn.

Da freute man sich auf die Gaben,
auf Nüsse, Schokolade, Kuchen;
die Leckereien, sie zu haben,
war ein Geschenk für arme Stuben.

Aus Kindermündern wurd‘ gesungen,
heut singt man nicht mehr, nein, man droht;
Amerika ist durchgedrungen,
der neue Mensch im Spaß verroht.

Geschlossene Gesellschaft

Verblichen abgedankt –
erlöste Körper in versunkenen Gründen.
Weltlich entfernt, der Erde abgewandt,
der Zeit entrückt, zum niemals Wiederfinden.

Gereifte Energien, gepflückt im Wandelbaren,
geerntet in der Freude, wo kein Auge weint,
um leibbefreit ihr Sein zu offenbaren,
obwohl gestaltlos unsichtbar es scheint.

Den alten Reigen tanzend - ewige Natur,
um körperlos die Erde loszulassen,
dem Geist des Ursprungs auf der Spur,
den Sinn, die Wahrheit sterbend zu erfassen.

An meinen Lieblingsbaum

von Charlotte von Ahlefeld

Bildquelle: Pinterest – Russenlinde
Die Träume, die in stillen Feierstunden,
Die dunkler Schatten mir so oft verlieh,
Die süße Ruh, die ich bei Dir gefunden,
Mein Lieblingsbaum, o die vergeß‘ ich nie!

Oft sah ich neben Dir die Sonne untergehen,
Entzückt von ihres Anblicks Majestät.
Oft hat des Herbstes lindes, kühles Wehen
Mit Deinem bunten Laub mich übersäet.

Vor meinen Blicken schwebten holde Bilder,
Im lichten Glanz der Jugendfantasie,
Da träumt ich mir des Schicksals Härte milder,
Und jeder Mißton wurde Harmonie.

Und liebend grub ich einst in Deine Rinde
Den Nahmenszug, der in mir brannte, ein;
Auch darum wirst Du mir, Du stille Linde,
Vor allen Bäumen ewig theuer seyn.

Wenn sich in Deinen blüthenvollen Zweigen
Des Westes leiser Odem kaum bewegt,
Fühlt mein Gemüth sich durch das tiefe Schweigen
Der heiligen Natur so ernst erregt.

Dann denk‘ ich all‘ der Wünsche, die vergebens
In meine Seele kamen, und entflohn,
Und seufze: wär‘ der kurze Traum des Lebens
Vorüber, wie so manche Hoffnung schon.

Und wäre einst nach meiner Tage Mühen,
O Baum, den stets mein Herz mit Liebe nennt,
Ein stilles Grab mir unter Dir verliehen,
Du wärest dann mein liebstes Monument.
Charlotte von Ahlefeld (1777-1849)

An den, der leis mich rief

Schweben im Meer der
Lautlosigkeit.
Der Lärm der Welt verklingt,
und um mich her versinkt,
wie schwerelos, die Zeit.

Sie trägt mich himmelan
und wirbelt mich im Tanz,
umhüllt und schließt mich ein
mit lichtem Strahlenglanz.

Erfüllt mich liebevoll
mit engelgleichem Traum;
glänzt wie ein kleines Licht
am großen Lichterbaum.

So frei, voll Harmonie,
in Quintenklangmusik,
geb’ ich mein Innen hin,
an DEN der leis’ mich rief.

Weine nicht!

Quelle: Pinterest
Wie die Meereswogen gegen Klippen schlagen,
wild und ungestüm, empört und rau,
tosen all die Stürme, die die Herzen tragen,
peitschen auf des Lebens tristes Grau.

Wo die schlimmen Wetter haltlos branden,
die verheerend in die tiefen Strudel treiben;
Elemente, die entfesselt Wege fanden
und den offenen Schlund des Abgrunds zeigen.

Niemals löscht ein Sturm das Licht der Sterne
und die seelentiefen Worte des Verstehens.
„Weine nicht!“, klingt‘s tröstend aus der Ferne,
wenn die Energien der Engel mit uns gehen.

Kühlen sanft und zart die heißen Wunden,
die ein Sturm im kranken Herz entfacht,
und die raue See scheint überwunden,
was den Lebensschmerz erträglich macht.
Quelle: Pinterest

Ein sprudelnder Brunnen

Quelle: Pinterest
Ein sprudelnder Brunnen mit Wasser des Lebens
füllt ohne Unterlass Schalen des Lichts,
gesegnetes Schenken des selbstlosen Gebens,
einer Quelle, die finstere Schatten durchbricht.

Wo ein Regenbogen den Ursprung spiegelt
und der Gold-Topf am Ende die weltliche Sphäre,
hat Gott die Sicht ins Jenseits versiegelt,
nur der Glaube daran füllt die seelische Leere.

Engel tragen das Licht in geöffnete Herzen,
füllen leere Münder mit göttlichen Worten,
dann öffnen sich Türen, weichen die Schmerzen,
und der Schleier öffnet die Jenseitspforten.

Irrlichter

Bild KI generiert
Jugendzeit, wo ist dein Feuer?  –
Funkensprühend war die Kraft.
Bliebst ein kurzes Abenteuer
der entbrannten Leidenschaft.

Neugier war des Triebes Drängen
auf die fremde Körperwelt.
Durch gesellschaftliche Zwänge
war verboten, was gefällt.

Unerforschtes Feld betreten,
hin zu fraglichen Regionen,
Reaktionen ungebeten
still erduldend beizuwohnen.

Wie mit tausend Händen fühlen
in des Dickichts Dunkelwelt,
die im Zwiespalt von Gefühlen
kurz darauf zusammenfällt.

Irrlichter – habt mich verschlissen!
Die mich Liebe gaukelnd banden,
flüstern heut‘ mir ins Gewissen:
Waren Funken, niemals Flammen.