Unnahbarer, wie du dich sträubst und windest, und dennoch wieder findest deiner Seele Sehnen, im flüchtigen Moment, sekundenlang, in unerkannten Blicksekunden, hast du dein scheues Ich verbunden mit längst vergess’nen Tönen.
Du hörst die Harmonie und schreckst vor diesem Klang, der in dein Ohr dringt und dir ‚Nähe’ haucht, du willst nicht, dass sich die Distanz verbraucht, und deine Seele taucht, so ängstlich, zukunftsbang.
Ich schau zum Himmel… wie das Wolkenband entschwebt, so, wie die Zeit entgleitet, und die Gedanken suchen ihren Weg zu dir, fern bist du mir, so, wie die Schäfchen dort am Firmament.
Ich trage dich in meinem müden Herzen, wie ein Beben, das mich erweckt und fühlend macht, im Schmerz. Der Tag vergeht, so, wie das Wolkenband entschwebte, doch du bliebst fern mir.
Oh, so dunkel wird die Nacht! Die langen Stunden waren voller Schweigen, gefüllt mit Sehnsucht bin ich, wie ein Schwamm, mit Bitterkeit. Ich resigniere an der Welt, am Leben, wo ich die Liebe suchte, fand ich Leid.
Die Zeit der großen Freude ist noch fern, alsdann sucht man sie in den kleinen Dingen. Bis eine neue Liebe aufgeht wie ein heller Stern, werden Alltäglichkeiten uns zum Lächeln bringen.
So müde macht das täglich’ Einerlei, weil es oft monoton den Tag durchläuft, wie eine Spieluhr, die man aufzieht und dabei das Leben unerschöpflich Vielfalt um uns häuft.
Fließt drin der Alltag müßig und draußen grauer Regen, verkriechen Mensch und Tier sich in den Räumen, kann nichts den müden Geist ins Freie heben, wird man in Wüstenzeiten von Oasen träumen.
Wenn die Liebe dir winkt, folge ihr, sind ihre Wege auch schwer und steil. Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin, auch wenn das unterm Gefieder versteckte Schwert dich verwunden kann. Und wenn sie zu dir spricht, glaube an sie, auch wenn ihre Stimme deine Träume zerschmettern kann wie der Nordwind den Garten verwüstet. Denn so, wie die Liebe dich krönt, kreuzigt sie dich. So wie sie dich wachsen lässt, beschneidet sie dich. So wie sie emporsteigt zu deinen Höhen und die zartesten Zweige liebkost, die in der Sonne zittern, steigt sie hinab zu deinen Wurzeln und erschüttert sie in Ihrer Erdgebundenheit. Wie Korngarben sammelt sie dich um sich. Sie drischt dich, um dich nackt zu machen. Sie siebt dich, um dich von deiner Spreu zu befreien. Sie mahlt dich, bis du weiß bist. Sie knetet dich, bis du geschmeidig bist; Und dann weiht sie dich ihrem heiligem Feuer, damit du heiliges Brot wirst für Gottes heiliges Mahl. All dies wird die Liebe mit dir machen, damit du die Geheimnisse deines Herzens kennen lernst und in diesem Wissen ein Teil vom Herzen des Lebens wirst…
Khalil Gibran (* 6. Januar 1883 als Gibrān Khalīl Gibrān bin Mikhā’īl bin Sa’ad arabisch جبران خليل جبران, DMG Ǧibrān Ḫalīl Ǧibrān in Bischarri, Osmanisches Reich, heute Libanon; † 10. April 1931 in New York
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