Frühlingserwachen

Dichtung von Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (1772-1801), genannt „Novalis“

Rezitation: Fritz Stavenhagen

Anmerkung: Die Synthese von Seele und Leib heißt Person. Die Person verhält sich zum Geist wie der Körper zur Seele. Sie zerfällt auch einst und geht in veredelter Gestalt wieder hervor. (Novalis)

Es färbte sich die Wiese grün
Und um die Hecken sah ich blühn,
Tagtäglich sah ich neue Kräuter,
Mild war die Luft, der Himmel heiter.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Und immer dunkler ward der Wald
Auch bunter Sänger Aufenthalt,
Es drang mir bald auf allen Wegen
Ihr Klang in süßem Duft entgegen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Es quoll und trieb nun überall
Mit Leben, Farben, Duft und Schall,
Sie schienen gern sich zu vereinen,
Dass alles möchte lieblich scheinen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

So dacht ich: ist ein Geist erwacht,
Der alles so lebendig macht
Und der mit tausend schönen Waren
Und Blüten sich will offenbaren?
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Vielleicht beginnt ein neues Reich
Der lockre Staub wird zum Gesträuch
Der Baum nimmt tierische Gebärden
Das Tier soll gar zum Menschen werden.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Wie ich so stand und bei mir sann,
Ein mächtger Trieb in mir begann.
Ein freundlich Mädchen kam gegangen
Und nahm mir jeden Sinn gefangen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Sie ging vorbei, ich grüßte sie,
Sie dankte, das vergess ich nie.
Ich musste ihre Hand erfassen
Und Sie schien gern sie mir zu lassen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Uns barg der Wald vor Sonnenschein
Das ist der Frühling fiel mir ein.
Kurzum, ich sah, daß jetzt auf Erden
Die Menschen sollten Götter werden.
Nun wußt ich wohl, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Unausweichlich

Christer Karlstad (*1974), norwegischer Maler
Sind dir geraubt des Lebens flücht’ge Gaben,
nachdem du Haus und Garten wohl bestellt,
und alle hohen Bäume, die Jahrzehnte waren,
der Axt gewichen, schonungslos gefällt?

Ist das genommen, was du tief empfunden,
ging Liebe fort aus deinem Lebensbild,
sind mit ihr deine Ziele hin, verschwunden
und letzte Spuren aus dem Herz gespült?

Hast du dich aufgegeben, fest entschlossen,
dein Dasein zu beenden, das dich plagt?
So schicksalshadernd, hat sich Frust ergossen,
dass du am Leben und am Leid verzagst.

Und allem Beileid tröstend Menschenwort,
das fiel von dir herab, als Unverstand.
Du wünschtest dich an einen anderen Ort,
an dem Verschwundenes nicht mehr verband. 

Der stolze Baum steht auch mit kahler Krone,
erträgt im Lebenskampf des Sturmes Biegen,
damit er manches Vogelnest verschone,
wird sie mit letzter Kraft am Boden liegen. 

Der Mensch allein hebt gegen sich die Hand,
will nichts aus Lebenskraft den anderen reichen;
sieht nicht der Bäume zugedachten Stand,
bereit, viel Frucht zu tragen statt zu weichen.

Vorfreude

Musik: Frederick Theodore Albert Delius (1862-1934)

Bald öffnen sich die Tore…
will ihn willkommen heißen,
ihm ohne viel Furore
im Geist entgegenreisen.

Bin längst des Frierens müde,
reiß alle Fenster auf,
damit ein Strahl sich grübe
vom hohen Sonnenhaus.  

In warmen Sommerhänden
wiegt mich mein Traum sodann;
er kommt mir sehr gelegen, 
damit ich hoffen kann.

Dann streicheln mich die Schatten,
das Dunkel schwindet schnell,
Das Licht auf den Rabatten 
macht Taggedanken hell. 

Sehnsuchtsfluss

Aquarell von Paul Hedley – Quelle: Pinterest
Der Sehnsuchtsfluss – gesäumt von grünen Staden,
er fließt vorbei an ausgetret’nen Pfaden,
gefestigt, hart, am Boden Stein für Stein,
als sie vom Herzen fielen, es erkalten ließen,
um schließlich selber Stein zu sein.

Es war ein junger Tanz an wilden Ufern,
schier unbefestigt, wie ein urig‘ Ding,
ein Folgen und ein Eilen zu den Rufern, 
wie Sehnen, welches hungrig nach Erfüllung ringt. 

Doch was ich fand, waren nur Traumgestalten,
die mir das Dickicht meiner Sehnsucht banden,
und fern des Flusses, sah ich, sie verschwanden.

Nur schleppend lass‘ ich los, die Bilder ferner Jahre,
der falschen Liebe und der tödlichen Gefahren,
um sehnsuchtsleer den trüben Glanz zu wahren.

Doch manchmal lausche ich dem fernen Fließen,
schau zu, wie Wellen kräuselnd sich ergießen, 
hör‘, wie es rauscht. - ER half mir zu verstehen,
wo jeder Stein befestigt tiefen Grund,
kann Wasser treiben an des Ufers Rund. 

So wandelt Wehmut sich zum Fundament,
so wird zum Segen, was man Leiden nennt. 

Phönixgleich

Quelle: Pinterest
Wie du dich plagst im körperlichen Leid,
wie du sie liebst, die ungestüme Freud,

wie du den Tag in Schweigen hüllst,
und deine heißen Tränen stillst. 

Seh im Gesicht, die Blicke, stumm,
in der die Frage furcht: „Warum?“

Verstehst nichts von der Erde Not,
nur deine.  - Was das Leben bot,

war dir willkommener Genuss;
verzichten ist der letzte Schluss.

In körperliche Starre geht
die arme Seele, die versteht:

belebt wird sie vom Lebensgeist,
bis er sie in die Schranken weist. 

Er flieht aus ihr, allein die Hülle
bleibt in der Erde dunklen Fülle. 

Das Lied der Todgeweihten kennen,
die hier im Lebenslicht verbrennen,

sich phönixgleich vom Grab erheben,
in neuem Klang, zu neuem Leben. 

Über Nacht

Bild von Gerhard auf Pixabay
Auf der Wiese, über Nacht,
sind die Krokusse erwacht,
und aus dunklen Erdenritzen,
kriechen frische Tulpenspitzen.

Blühen in vermehrter Pracht,
sind vom Winter aufgewacht.
Frühaufsteher singen schon,
ihren wohlbekannten Ton.

Auf der Erde baut sich wieder
neue Nester das Gefieder,
und die Sonne scheint dazu -
friedlich ist die Mittagsruh.

Dort im Beet die weißen Glöckchen,
wiegen winterlich die Röckchen.
Die Natur ist still erwacht – 
über Nacht. 

Unter Trümmern

Caspar David Friedrich (1774-1840)
Unter Trümmern liegt die Welt begraben,
deren Last erdrückend wiegt und schwer.
Hohe Zeiten waren leicht zu tragen,
drunten liegt der Tod im Häusermeer.

In den Grüften selbsterbauter Stätten,
liegen sie, die Toten unsrer Zeit.
Die noch bleiben, um sie umzubetten,
machen sie zur Abschiedsfahrt bereit.

Lautes Stöhnen, dringt durchs Weltenbeben,
Erde tat sich auf und schließt den Kreis,
und sie weint und die, die überleben,
sind dem Nächsten helfend angereist.

Vor den Resten stummer Einsturzbauten,
ragen deren Münder, wie ein Schrei.
Vom Erleben, dem sie einst vertrauten,
wich aus letzter Hoffnung ein Vorbei.

Der Kalender hat ein Blatt beschrieben,
statt des Frühlings kam die Trauerzeit.
Fassungslosigkeit allein ist hiergeblieben,
und der Mensch erhofft sich Trost im Trauerkleid.

Sonnenschutz

Bild von lillaby auf Pixabay
Die Bäume, die ich liebte, sind gefällt, 
Jahrzehnte ihres Wachsens sind dahin.
Kein Zweiglein mehr, kein Nistplatz, der gewählt;
die Äste abgeholzt, die Leere ohne Sinn.

Vergangen ist das Schauen auf das grüne
und frische Blattwerk, das sich wog im Wind.
Dort, wo die Amsel sang in aller Frühe,
ist die Natur gebeugt, von Tränen blind.

Eichhörnchen spielten in den Zweigen,
voll Freude sprangen sie von Ast zu Ast.
Die Säge, sie erzählte von den Leiden,
die kreischend schrie der Baum in Todeslast.

Geöffnet hat der Himmel seine Weiten;
die Sonne strahlt erbarmungslos herab.
Kein Schutz mehr vor den heißen Sommerzeiten,
den uns das Blattwerk vor den Strahlen gab. 

Dass wir gefällt, einst auch am Boden liegen,
Naturgesetz - ein unabwendbar‘ Ding;
lässt unsren Geist in off‘ne Himmel fliegen,
gibt uns im Tod des Lebens höheren Sinn.

Berührungslose Nähe

Bild von Hans auf Pixabay
Fühle berührungslose Nähe,
distanzlose Gedanken,die, 
würdest du sie sehen,
wie dornenlose Rosen,
duftend um dich ranken.

Bruchteile von Sekunden,
mit einem Lächeln lieben –
so seelentief verbunden,
als stünd’s in einem heil’gen Buch geschrieben,
mit tausend Zauberworten,die,
wenn sie ausgesprochen an geheimen Orten,
die Herzensflammen bis in Ewigkeiten brennen ließen,
und dort verweilend,
würden sie den Jüngsten Tag begrüßen.

In den Unendlichkeiten
würden sie die neuen Morgen kränzen,
als kleine Sterne,
funkelnd, an den fernen Himmeln glänzen,
und sich, wie unsichtbarer Liebesregen,
auf die Geschöpfe dieser Erde legen.

Ahnst du mein unsichtbares Wangenstreicheln,
fühlst du die fessellosen Bande?

Möchte’ gerne deiner Seele schmeicheln,
bin ich doch deinen Weg zu glätten außerstande.

Der Februar

von Erich Kästner (1899-1974)
Bild von Georg Satzinger auf Pixabay
Nordwind bläst. Und Südwind weht.
Und es schneit. Und taut. Und schneit.
Und indes die Zeit vergeht
bleibt ja doch nur eins: die Zeit.

Pünktlich holt sie aus der Truhe
falschen Bart und goldnen Kram.
Pünktlich sperrt sie in die Truhe
Sorgenkleid und falsche Scham.

In Brokat und seidnen Resten,
eine Maske vorm Gesicht,
kommt sie dann zu unsren Festen.
Wir erkennen sie nur nicht.

Bei Trompeten und Gitarren
drehn wir uns im Labyrinth
und sind aufgeputzte Narren
um zu scheinen, was wir sind.

Unsre Orden sind Attrappe.
Bunter Schnee ist aus Papier.
Unsre Nasen sind aus Pappe.
Und aus welchem Stoff sind wir?

Bleich, als sähe er Gespenster,
mustert uns Prinz Karneval.
Aschermittwoch starrt durchs Fenster.
Und die Zeit verläßt den Saal.

Pünktlich legt sie in die Truhe
das Vorüber und Vorbei.
Pünktlich holt sie aus der Truhe
Sorgenkleid und Einerlei.

Nordwind bläst. Und Südwind weht.
Und es schneit. Und taut. Und schneit.
Und indes die Zeit vergeht,
bleibt uns doch nur eins: die Zeit.